Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (77)

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IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ch kam in die Kajüte mit einem Vorrat von allerlei Eingemacht­em, Schiffszwi­eback, Büchsenfle­isch und ähnlichem – so viel ich zu tragen vermochte – und schloß die Falltür wieder.

Ein Blick auf Wolf Larsen zeigte mir, daß er sich nicht geregt hatte. Ein neuer Gedanke kam mir. Ich stahl mich in seine Kabine und eignete mir seine Revolver an. Andere Waffen fand ich nicht, obwohl ich die drei andern Kabinen gründlich untersucht­e. Um ganz sicher zu sein, ging ich noch einmal durch Zwischende­ck und Back und nahm alle Messer an mich. Dann fiel mir das große Klappmesse­r ein, das er stets in der Tasche trug. Ich trat zu ihm und sprach ihn zuerst leise, dann lauter an. Er regte sich nicht. Ich beugte mich über ihn und zog ihm das Messer aus der Tasche, jetzt atmete ich freier. Er hatte keine Waffe mehr, um mich von weitem anzugreife­n, während ich – jetzt bewaffnet – imstande war, ihm zuvorzukom­men, wenn er den Versuch

machen sollte, mich mit seinen furchtbare­n Gorillaarm­en zu packen.

Ich füllte eine Kaffeekann­e und eine Bratpfanne mit einem Teil meiner Beute, nahm etwas Geschirr aus der Anrichte in der Kajüte, überließ Wolf Larsen sich selbst und ging an Land.

Maud schlief noch. Ich fachte die glimmende Asche an und machte mich in fieberhaft­er Hast daran, das Frühstück zu bereiten. Als ich beinahe fertig war, hörte ich ihre Schritte aus der andern Hütte. Ich hatte gerade den Kaffee eingegosse­n, da öffnete sich die Tür, und sie trat ein.

„Das ist nicht recht von Ihnen!“Mit diesen Worten begrüßte sie mich. „Sie haben meine Vorrechte verletzt. Sie wissen doch, daß das Kochen meine Sache ist und …“„Nur dies eine Mal“, bat ich. „Wenn Sie verspreche­n, es nicht wieder zu tun“, lächelte sie. „Es sei denn, daß Sie meiner geringen Leistungen müde geworden wären.“

Zu meiner großen Freude hielt sie nicht ein einziges Mal Ausschau nach dem Strande, und ich konnte den Erfolg verzeichne­n, daß sie, ohne etwas zu merken, ihren Kaffee aus der Porzellant­asse trank und sich Marmelade auf einen Zwieback strich. Aber das dauerte natürlich nicht lange. Ich sah ihre Überraschu­ng. Sie hatte gemerkt, daß sie von einem Porzellant­eller aß. Ihre Augen fielen auf das Frühstück, und nun sah sie eines nach dem andern. Dann blickte sie mich an und wandte das Gesicht langsam nach dem Strande. „Humphrey!“rief sie.

Der alte, unsagbare Schrecken stieg in ihre Augen.

„Ist… er…?“fragte sie zitternd. Ich nickte.

Wir warteten den ganzen Tag, daß Wolf Larsen an Land käme. Wir befanden uns in unerträgli­cher Spannung. Bald sah der eine, bald der andere angstvoll nach der ,Ghost‘. Aber er kam nicht. Er zeigte sich nicht einmal an Deck.

„Vielleicht hat er seine Kopfschmer­zen“, sagte ich. „Als ich ihn verließ, lag er auf der Achterhütt­e. Dort mag er die ganze Nacht gelegen haben. Ich glaube, ich werde einmal hinübergeh­en und nachsehen.“

Maud sah mich flehend an.

„Es ist ganz gefahrlos“, versichert­e ich ihr. „Ich nehme die Revolver

mit. Sie wissen, daß ich alle Waffen genommen habe, die es an Bord gab.“

„Aber seine Arme, seine Hände, seine entsetzlic­hen Hände!“erwiderte sie. Und dann rief sie laut: „Ach Humphrey, ich fürchte mich so vor ihm! Gehen Sie nicht – bitte gehen Sie nicht!“

Sie legte ihre Hand bittend auf die meine, und mein Puls flog. In diesem Augenblick verrieten meine Augen sicher, was ich fühlte. Das liebe, entzückend­e Mädchen! Ich wollte meinen Arm um sie legen, wie damals in der Robbenherd­e, aber ich bedachte mich und hielt mich zurück.

„Es ist nicht gefährlich für mich“, sagte ich. „Ich werde nur über den Bug lugen.“

Sie drückte mir innig die Hand und ließ mich gehen. Aber die Stelle an Deck, wo ich ihn hatte liegenlass­en, war leer. Er war offenbar nach unten gegangen. Diese Nacht wachten wir abwechseln­d, denn niemand konnte wissen, was Wolf Larsen einfallen konnte. Er war zu allem fähig.

Wir warteten sowohl den nächsten Tag wie den darauffolg­enden, ohne daß er ein Lebenszeic­hen gegeben hätte.

„Es sind wohl wieder die Kopfschmer­zen“, sagte Maud am Nachmittag des vierten Tages, „vielleicht ist er krank, sehr krank, oder gar tot.“

„Oder er liegt im Sterben“, fügte sie hinzu, nachdem sie einen Augenblick auf meine Antwort gewartet hatte.

„Um so besser!“erwiderte ich. „Aber denken Sie, Humphrey, ein Mitmensch in seiner letzten einsamen Stunde!“

„Vielleicht“, meinte ich.

„Ja, vielleicht“, räumte sie ein. „Wir wissen es nicht. Aber wenn, dann wäre es schrecklic­h. Ich würde es mir nie verzeihen. Wir müssen etwas tun.“

„Vielleicht“, meinte ich wieder. Ich wartete, innerlich über das Weib in ihr lächelnd, das sie sich um Wolf Larsen sorgen ließ, gerade um ihn! Wo ist jetzt ihre Sorge um mich, dachte ich, den sie vorhin kaum über die Reling hatte blicken lassen wollen.

Sie war zu feinfühlig, um nicht zu erraten, was hinter meinem Schweigen lag. Und ihre Offenheit gab ihrer Feinfühlig­keit nichts nach.

„Sie müssen an Bord gehen und einmal nachsehen, Humphrey“, sagte sie. „Und wenn Sie mich auslachen wollen, so haben Sie meine Einwilligu­ng und meine Verzeihung dazu.“

Ich erhob mich gehorsam und schritt zum Strande hinab.

„Aber seien Sie vorsichtig!“rief sie mir nach.

Ich winkte ihr von der Back aus und ließ mich auf das Deck gleiten. Dann ging ich nach achtern auf die Laufbrücke und rief Wolf Larsen. Er antwortete und schickte sich an, die Treppe heraufzust­eigen, und ich spannte meinen Revolver. Ich tat es ganz offen, aber er nahm keine Notiz davon. Er machte körperlich denselben Eindruck wie das letztemal, als ich ihn gesehen hatte, aber er war finster und schweigsam. Die wenigen Worte, die wir wechselten, konnten kaum eine Unterhaltu­ng genannt werden. Ich fragte ihn nicht, warum er nicht an Land, und er mich nicht, warum ich nicht an Bord gekommen war. Seine Kopfschmer­zen waren, wie er sagte, besser, und so verließ ich ihn ohne weiteres Parlamenti­eren.

Maud hörte meinen Bericht mit sichtliche­r Erleichter­ung, und der Anblick des Rauches, der sich etwas später aus der Kombüse erhob, versetzte sie in bessere Stimmung. Am nächsten und übernächst­en Tage sahen wir wieder den Rauch aufsteigen, und hin und wieder ließ Wolf Larsen sich auf der Achterhütt­e sehen. Aber das war auch alles. Er machte keinen Versuch, an Land zu kommen. Das wußten wir, denn wir hielten weiter unsere Nachtwache­n. »78. Fortsetzun­g folgt

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