Neu-Ulmer Zeitung

Als die Feuerwehr mit dem Hubschraub­er flog

- VON SEBASTIAN MAYR

Zeitgeschi­chte Ab 1974 flogen Ulmer Feuerwehrl­eute mit dem Notarzt zu Einsätzen. Über eine Pionierzei­t, neue Entwicklun­gen und das Ende einer einzigarti­gen Zusammenar­beit

Ulm Den spektakulä­rsten Einsatz kann Peter Mayer immer noch nacherzähl­en, als läge er erst ein paar Tage zurück. Es ist der 12. Juni 1976, als zwei Ulmer Feuerwehrm­änner mit dem Rettungshu­bschrauber der Bundeswehr zum Truppenübu­ngsplatz nach Münsingen fliegen, wo ein Kanonenjag­dpanzer über eine vier Meter hohe Böschung gerutscht ist. Elf Jahre lang gehen die Retter mit an Bord des Helikopter­s, um Menschenle­ben zu retten. Es ist ein bundesweit einzigarti­ges Projekt. Ein Projekt, für das die Ulmer sogar neue Technik selbst entwickelt­en.

Im November 1971 wurde auf Drängen des Professors und Oberstarzt­es Friedrich Wilhelm Ahnefeld ein Hubschraub­er in Ulm stationier­t, mit dem medizinisc­hes Personal der Bundeswehr zu Unfällen flog, um Menschenle­ben zu retten. Gurte waren in den Autos noch nicht generell üblich, und wenn zwei Fahrzeuge frontal zusammenst­ießen, wurde meist bis zur Lenksäule alles ins Wageninner­e geschoben. Die Feuerwehrl­eute mussten Unfallauto­s mithilfe der Feuerwehrf­ahrzeuge auseinande­rziehen und eingeklemm­te Unfallopfe­r mit der Säge oder dem Trennschle­ifer befreien. Die Ulmer Feuerwehr schaffte sich im Mai 1973 als erste in Europa einen hydraulisc­hen Rettungssp­reizer an – die damals in Ulm gegründete und heute in Biberach ansässige Firma Grenz hatte diese Geräte in Deutschlan­d auf den Markt gebracht. Weil die Ulmer nun in weitem Umkreis die Einzigen mit der entspreche­nden Ausrüstung waren, entstand die Kooperatio­n mit der Bundeswehr.

Am 29. August 1974 fordert das Bundeswehr-rettungsze­ntrum die Hilfe der Feuerwehr Ulm an, bei einem Unfall in Dischingen im Kreis Heidenheim ist ein Mensch eingeklemm­t. Ein Ford Transit der Feuerwehr bringt Peter Mayer und die Ausrüstung zur Wilhelmsbu­rgkaserne, wo der Hubschraub­er stationier­t ist. Weil Rettungssp­reizer, Hydraulika­ggregat und Stromerzeu­ger mehr als 100 Kilo wiegen, kann nur ein Feuerwehrm­ann mit an Bord. „Die Feuerwehr war darauf nicht vorbereite­t“, erinnert sich Mayer. Nach dem ersten Einsatz ist klar: Eine andere Lösung muss her. Schon einen knappen Monat später besorgen die Ulmer ein leichteres Gerät mit einem benzinbetr­iebenen Motor. Peter Mayer, damals in seinem ersten Jahr als Berufsfeue­rwehrmann, entwickelt außerdem eine Hochdrucks­chlauchhas­pel – ein Hilfsmitte­l, um die Schläuche aufund abwickeln und dadurch flexibler arbeiten zu können. „Die technische Seite hat mich sehr interessie­rt“, berichtet der Oberamtsra­t im Ruhestand, der in Neu-ulm lebt.

Im Jahr 1976 geht es richtig los, mit vier Einsätzen. Die Feuerwehr ist technisch besser gerüstet, jetzt brechen drei Mann von der Feuerwache aus in einem Ford Granada zu den Einsätzen auf. Die zwei schnellste­n dürfen auf dem Kasernenge­lände an Bord des Helikopter­s, der dritte holt seine Kollegen mit dem Auto vom Einsatzort ab – den Platz im Rettungshu­bschrauber braucht man auf dem Rückweg fast immer für das Unfallopfe­r. In den Folgejahre­n wird die Zahl der Rettungsfl­üge mit der Feuerwehr zweistelli­g. Bis das Bundeswehr­krankenhau­s fertig ist. Der Rettungshu­bschrauber startet jetzt von dort aus. Der Weg der Feuerwehrl­eute ist weiter als zuvor, die Notärzte müssen auf sie warten. Gleichzeit­ig schaffen sich andere Wehren bessere Ausrüstung an. Die fliegenden Feuerwehrm­änner sind nicht mehr so unverzicht­bar, wie sie es jahrelang waren. 1985 sind sie letztmals mit an Bord. Ein Jahr darauf zieht Peter Mayer in einem Bericht für das Innenminis­terium in Stuttgart Bilanz. Das Modell habe sich bewährt, schreibt er. Kernpunkt sei aber die Zeit für die Fahrt von der Wache zum Landeplatz.

Doch für den Rückgang der Einsatzzah­len gab es noch einen weiteren Grund: Weil die Ulmer ohne Anforderun­g auch in anderen Landkreise­n Opfern halfen, gingen Beschwerde­n bei der Rettungsle­itstelle ein – „z. T. massiv“, steht im Bericht aus dem Sommer 1986. Die örtlichen Feuerwehre­n wollten ihre Einsätze selbst bestreiten. Peter Mayer bedauert, dass die Flüge für ihn und seine Kollegen endeten. „Es war eine hochintere­ssante Phase“, sagt der heute 77 Jahre alte Mann. In seinem Bericht aus dem Jahr 1986 nennt er die gemeinsame­n Flüge zudem „die günstigste Ausgangssi­tuation für einen Rettungsei­nsatz“. Alle Helferinne­n und Helfer sind gleichzeit­ig da, medizinisc­he Versorgung und technische Hilfe gehen Hand in Hand. „Es war eine vertrauens­volle und gemeinscha­ftliche Tätigkeit“, erinnert er sich.

So wie im Fall des Panzers. Der gerät an einem Samstag im Juli 1976 auf abschüssig­er Straße ins Schleudern, stürzt über eine Böschung und trifft mit dem Kanonenroh­r einen Baum. Das Rohr wird ins Innere des Fahrzeugs geschoben und klemmt den Panzerkomm­andanten ein. Um 19.48 Uhr erreicht der Rettungshu­bschrauber den Truppenübu­ngsplatz Münsingen im Kreis Reutlingen, wo der Unfall passiert ist. Was sie dort erwartet, erfahren Peter Mayer und sein Feuerwehrk­ollege erst unterwegs. Drei weitere Soldaten werden gerettet und behandelt, der Fähnrich bleibt eingeklemm­t. Mayer weiß noch, was der Notarzt Dr. Bodo Gorgaß irgendwann immer häufiger sagte: „Ihr müsst euch jetzt beeilen!“Die Hitze im Panzer ist brütend, im Einsatzber­icht der Feuerwehr ist von 40 bis 50 Grad die Rede. Das Werkzeug der Einsatzkrä­fte stößt im Panzer an seine Grenzen. Dann gibt ein Waffenmeis­ter den entscheide­nden Tipp, wo der Spreizer angesetzt werden muss. Das Rohr hebt sich und schnellt in die Führung zurück. An den Knall, sagt Peter Mayer, erinnert er sich bis heute. Nach anderthalb Stunden Arbeit ist der Fähnrich frei, er wird in die Uniklinik geflogen. Sein linker Unterschen­kel muss amputiert werden. Hätte die Feuerwehr keinen Erfolg gehabt, dann wäre dem Mann bei einer Notamputat­ion am Unfallort wohl das ganze Bein abgenommen worden.

136-mal heben Ulmer Feuerwehrl­eute mit dem Rettungshe­likopter ab, auf das Kennwort „Hubschraub­ereinsatz“hin brechen sie von der Wache aus auf. Die Einsatzort­e liegen rund 20 bis 40 Kilometer entfernt, da ist der Flug schneller als die Fahrt auf dem Landweg. Als die gemeinsame­n Flüge enden, behält die Ulmer Feuerwehr ihren Hubschraub­er-rettungssa­tz als Ersatz und für Einsätze an schwer zugänglich­en Orten.

Peter Mayer geht 2004 in den Ruhestand. Der Rettungssa­tz steht heute in der Feuerwache in der Keplerstra­ße. An der Wand dahinter erinnern Schautafel­n an die Helfer aus der Luft.

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Fotos: Thomas Heckmann Unterwegs im Hubschraub­er – das war ein bundesweit einzigarti­ges Projekt. Unser Foto zeigt zwei Feuerwehrm­änner beim Verladen eines Rettungssp­reizers in der Wilhelms‰ burgkasern­e in den Hubschraub­er.
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Peter Mayer mit dem Hubschraub­er‰rettungssa­tz aus den 70er‰jahren, im Hinter‰ grund der Vorausrüst­wagen.
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SAMSTAG, 20. NOVEMBER 2021

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