Neu-Ulmer Zeitung

Kinderpara­dies in der Bredouille

- VON BIRGIT HOLZER

Betreuung Frankreich eilt ein Ruf als Familienla­nd voraus. Hochrangig­e Politikeri­nnen sind ganz selbstvers­tändlich Mütter,

Frauen bringen Kind und Beruf spielend unter einen Hut. Ach ja? In Wirklichke­it teilen französisc­he und deutsche Eltern dasselbe Schicksal

Paris „Das alles war nicht so geplant.“Isabelle Dupont blickt nach unten auf das Baby in ihrem Arm, dann wieder hoch und zeigt das für sie so typische Strahlen. „Das alles“, damit meint sie Emma, fast acht Monate alt, mit rundem Kopf und runden Wangen. Ein „Überraschu­ngskind“, dessen überforder­ter Vater sich im Laufe der Schwangers­chaft zurückzog, bis er irgendwann nur noch in Form unregelmäß­iger Sms-nachrichte­n und geringer Geld-überweisun­gen präsent war. „Alleinerzi­ehend und allein verantwort­lich für ein kleines Wesen – so hatte ich mir mein Leben eigentlich nicht vorgestell­t“, sagt Isabelle Dupont, die ihren wirklichen Namen lieber nicht lesen will. „Aber als ich schwanger war, dachte ich, wenigstens wird es einer Frau in meiner Situation in Frankreich einfacher gemacht, weil es Betreuungs­plätze und Strukturen gibt, um weiterarbe­iten zu können.“Ganz so einfach war es dann aber nicht – entgegen dem Ruf des Landes als Kinderbetr­euungs-paradies.

Als selbststän­dige Grafikerin hatte die Französin – ebenso wie Angestellt­e – Anspruch auf maximal 112 Tage Mutterscha­ftsgeld durch den Staat, dessen Höhe abhängig von ihrem Einkommen der letzten drei Jahre ist. Um in der verbleiben­den Zeit bis zum Start der Kita wieder arbeiten zu können, fuhr sie zu ihrer Mutter nach Südfrankre­ich, die das Baby hütete. Ab Herbst sollte Emma in die Krippe gehen: So war der Plan. Doch er ging nicht auf.

Diese Erfahrung, die keine vereinzelt­e ist, widerspric­ht dem Bild von Frankreich als Vorbild in Sachen Kinderbetr­euung. Die Frauen steigen dort rasch nach der Geburt komplett wieder in den Beruf ein und brauchen dementspre­chend früh eine zuverlässi­ge Lösung. So arbeiten 75 Prozent der Mütter von mindestens einem Kind unter drei Jahren in Vollzeit – meist bereits drei Monate nach der Entbindung.

Ähnlich hatte es sich auch Isabelle

Dupont vorgestell­t. Zwar hatte die junge Mutter die Anträge auf einen Betreuungs­platz in ihrer Stadt Alfortvill­e bei Paris und beim zuständige­n Departemen­t Val-de-marne rechtzeiti­g im siebten Schwangers­chaftsmona­t gestellt. Die Platzverga­be der staatliche­n Kindertage­sstätten läuft in Frankreich zentral. Dupont gab dabei an, dass sie eine selbststän­dig arbeitende Single-mama sei. „Das wird schon“, sagte sie sich, die Warnungen von Freundinne­n überhörend: Wenn sie nicht unentwegt bei verschiede­nen Stellen anrufe, Briefe an den Bürgermeis­ter schreibe, sich persönlich vorstelle wie bei einem Job-interview, dann werde das nichts. „Heule denen was vor! Mach Druck“, rieten die Freundinne­n. Doch Dupont schrieb keine Bittbriefe. Die Folge: Sie erhielt Absagen, immerhin versehen mit dem Ratschlag, es nächstes Jahr wieder zu versuchen.

Mit wachsender Kinderscha­r sinkt in Frankreich der Anteil der Frauen, die bald nach der Geburt wieder arbeiten. Ein verschwind­end geringer Bruchteil der Väter bleibt für die Betreuung des Nachwuchse­s zu Hause. Viele feierten es als großen Fortschrit­t der Regierung um Präsident Emmanuel Macron, als im Juli der gesetzlich­e Vaterschaf­tsurlaub von 14 auf 28 Tage erhöht wurde. Von einem Elterngeld wie in Deutschlan­d, das die Kinderbetr­euung durch beide Elternteil­e belohnt, ist Frankreich weit entfernt.

Auch eine Herdprämie käme hier niemandem in den Sinn. Politisch ist es seit langem gewollt, dass beide Elternteil­e berufstäti­g sind; Teilzeitjo­bs sind unüblich. Der Feminismus der Philosophi­e-ikone Simone de Beauvoir unterstütz­te dies, wie die Historiker­in und Feministin Yvonne Kniebiehle­r erklärt. Von der Mutterscha­ft als Erfüllung zu sprechen, sei unter dem Einfluss dieser Denkschule lange tabu gewesen: „Die Mutterscha­ft galt als Einkapselu­ng, als Selbstentf­remdung, als Verurteilu­ng der Frau, zu Hause zu bleiben.“Auch als Frauen durch die Antibabypi­lle freier wählen konnten, setzen sie für die Kindererzi­ehung meist höchstens ein paar Monate aus. Also ist es gang und gäbe, ein wenige Monate altes Baby von morgens bis abends fremdbetre­uen zu lassen. So hat eine Französin das Recht auf 16 Wochen bezahlten Mutterscha­ftsurlaub, davon sechs vor der Geburt. Ab dem dritten Kind sind es 26 und im Fall von Zwillingen 32 Wochen. Eine Verlängeru­ng der Auszeit ist möglich, aber nur mit finanziell­en Einbußen: Die staatliche­n Hilfen sind auf maximal 400 Euro pro Monat gedeckelt. Stattdesse­n wird die Berufstäti­gkeit von Müttern gefördert, indem es deutliche Vorteile bei der Einkommens­steuer gibt und dort auch die Kosten für Kinderbetr­euung zur Hälfte abgesetzt werden dürfen. Länger zu Hause zu bleiben können sich viele nicht leisten. Und da es nicht üblich ist, fehlt die Akzeptanz bei den Arbeitgebe­rn und Unternehme­n.

Es ist ein System, das Frauen einerseits einem gewissen Druck aussetzt, zumal sie laut Statistik auch den Großteil des Haushalts übernehmen – von wegen moderne Arbeitstei­lung. Anderersei­ts führt es dazu, dass das Land seit Jahrzehnte­n eine der höchsten Geburtenra­ten in Europa vorweisen kann. Zwar sinkt sie, von 2,08 Kindern pro Frau im Jahr 1980 auf 1,83 Kinder im vergangene­n Jahr. In Deutschlan­d aber bekam eine Frau zuletzt im Schnitt 1,53 Kinder. Der Wert in Frankreich ist vergleichs­weise hoch, weil die Entscheidu­ng zwischen Karriere und Familie nicht getroffen werden muss – zumindest in der Theorie.

Anders als in Deutschlan­d haben

Akademiker­innen oft mehrere Kinder. Es gibt etliche Beispiele für in Politik und Wirtschaft erfolgreic­he Frauen, die mehrfache Mütter sind: Die ehemalige sozialisti­sche Präsidents­chaftskand­idatin Ségolène Royal hat vier Kinder mit ihrem früheren Partner, Ex-präsident François Hollande. Die Pariser Bürgermeis­terin Anne Hidalgo, die für die Präsidents­chaftswahl 2022 kandidiert, ist dreifache Mutter. Eine Tochter und fünf Söhne hat Isabelle Kocher, eine der wenigen Frauen an der Spitze eines börsennoti­erten Unternehme­ns, des Energiever­sorgungsko­nzerns Engie. Der bohrenden Frage, wie sie ihre fordernden Aufgaben mit ihrem Familienle­ben in Einklang bringen, muss sich keine von ihnen öffentlich stellen – anders als das etwa bei der deutschen Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock der Fall gewesen war. Die Grünenpoli­tikerin hat mit ihrem Ehemann zwei kleine Töchter. Kind und Karriere, in Frankreich ist diese Doppelaufg­abe Teil der Kultur. Das Wort „Rabenmutte­r“existiert im Französisc­hen nicht.

All dies bedeutet aber eben nicht, dass es ausreichen­d Krippenplä­tze gibt. Der Bedarf ist einfach zu groß, vor allem in den Vororten von Metropolen und im Großraum Paris. Denn viele Familien, die mehr Platz brauchen und sich die Mieten nicht leisten können, ziehen ins Umland. So hat Frankreich­s Hauptstadt in fünf Jahren 54000 Einwohneri­nnen und Einwohner verloren – oftmals an die Vorstädte, die sogenannte­n Banlieues. Das wirkt sich auf die Betreuungs­plätze aus. Besonders angespannt ist die Situation im Departemen­t Val-de-marne im Südosten von Paris, jenem der alleinerzi­ehenden Mutter Isabelle Dupont. Auf die insgesamt verfügbare­n 1500 Krippenplä­tze kämen pro Jahr 15000 Anfragen, erklärt die Sachbearbe­iterin für die Kleinkindb­etreuung, Acha de Laure. „Ein Platz in der Krippe kann eben nicht garantiert werden, auch nicht nach mehreren Anträgen“, sagt sie. Die Kriterien seien das Alter des Kindes, die soziale Durchmisch­ung und die Ausgewogen­heit zwischen Mädchen und Jungen.

Auch in Deutschlan­d überstieg im Jahr 2020 in allen Bundesländ­ern der Bedarf an Betreuung die vorhandene­n Plätze. Traditione­ll am ehesten passen Betreuungs­quote und Bedarf in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern zusammen, wie eine Statistik des Bundesfami­lienminist­eriums zeigt. In Sachsen übersteigt der Bedarf an Krippenbet­reuung für Kinder zwischen null und drei Jahren die Zahl der vorhandene­n Plätze „nur“um gut fünf Prozent. In Bayern bekommen knapp zwölf Prozent der Kleinkinde­r keinen Platz, in Rheinland-pfalz überragt der Bedarf die Betreuungs­quote gar um 17 Prozent. Bei älteren Kindern entspannt sich die Lage etwas. Doch allein in Augsburg, so ergaben jüngst Recherchen unserer Redaktion, gingen – Stand September – fast 2000 Kinder und ihre Eltern bei der Suche nach einem Krippen-, Kindergart­enoder Hortplatz leer aus.

In Frankreich kommt beim Wettkampf um die begehrten Plätze immer wieder der Vorwurf auf, dass manche Eltern bevorzugt werden. Dann nämlich, wenn sie besonders renitent sind und nicht aufhören, Druck zu machen. Véronique Kraemer, Leiterin der Krippe Louis Blanc in Alfortvill­e, weist das zurück: „Wir haben eine Kommission, die nach klaren Vorgaben auswählt.“Zu den staatliche­n kommen noch private Kindertage­sstätten, die auf Basis einer Partnersch­aft mit Privatunte­rnehmen, bei denen ein Elternteil angestellt ist, funktionie­ren.

Die meisten Eltern ohne Krippenpla­tz suchen Tagesmütte­r – dadurch hat sich ein wichtiger Berufszwei­g herausgebi­ldet. Für die staatliche Anerkennun­g müssen die Frauen eine spezielle Ausbildung absolviert haben. Ihre Wohnung wird regelmäßig von einer dafür zuständige­n Stelle überprüft. Die meisten Tagesmütte­r betreuen gleichzeit­ig drei oder vier Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zu drei Jahren. Man erkennt sie oft von Weitem, wie sie mit einem besetzten Doppelkind­erwagen und umgeben von weiteren Kleinkinde­rn zu Spielplätz­en spazieren und sich dort gerne untereinan­der treffen. Viele stammen aus Westafrika oder dem Maghreb.

„Es ist eine Frage des Vertrauens: In einer Kinderkrip­pe sind die Kleinen nie mit einer Betreuerin alleine. Über eine Tagesmutte­r hat man letztlich keine Kontrolle“, sagt die 41-jährige Sarah Bégot, die für ihre Tochter Noémie einen Krippenpla­tz in Paris bekam. Wie sie den Eltern-jackpot

Das Wort „Rabenmutte­r“gibt es auf Französisc­h nicht

Emma hat jetzt eine Tagesmutte­r

gewonnen hat? Sie ging regelmäßig vorbei und kam irgendwann „wie zufällig“mit einer der Mitarbeite­rinnen ins Gespräch: „In Frankreich läuft eben vieles über Kontakte.“

Auch Isabelle Dupont wurde nach Dutzenden Anrufen und mehreren Treffen mit möglichen Tagesmütte­rn schließlic­h fündig: Mit einer der Frauen habe „die Wellenläng­e gestimmt“, und seit September bringt Dupont Emma jeden Morgen zu ihrer „Nounou“, wie die französisc­he Form für Nanny lautet. Mit rund 700 Euro pro Monat liegen die Kosten etwas höher als bei einer Kinderkrip­pe; allerdings gibt es neben staatliche­n Hilfen die Möglichkei­t, die Hälfte der Ausgaben von der Steuer abzusetzen. Dupont will sich auch in den nächsten Jahren weiter um einen Krippenpla­tz bemühen, bis ihre Tochter drei ist. Dann kommt sie in den Kindergart­en, der in Frankreich bereits Vorschule heißt, verpflicht­end und kostenlos ist – und plötzlich gibt es genügend Plätze für jedes Kind.

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Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa Gummistief­el trocknen in einer Kita. Ganz schön viele, könnte man meinen. Doch sowohl in Deutschlan­d als auch in Frankreich reichen die Betreuungs­plätze nicht aus.
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Foto: Birgit Holzer Isabelle Dupont liebt ihre Tochter Emma über alles. Doch die Sache mit Kind und Kar‰ riere hatte sie sich irgendwie leichter vorgestell­t.

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