Neu-Ulmer Zeitung

Kein glückliche­s Leben

- VON RÜDIGER HEINZE

Staatsthea­ter Augsburg „Mary Page Marlowe“: In dem Tracy-letts-drama sucht eine Frau die, die sie wirklich ist

Augsburg Mary Page Marlowe hat einiges durchgemac­ht in ihrem Leben. Dominante, verarmt-alleinerzi­ehende Mutter, langsame Entwicklun­g hin zur Alkoholike­rin, Trennung der eigenen ersten Ehe, Entwicklun­g des Sohnes hin zum Heroinabhä­ngigen, Trennung der zweiten Ehe, sexuelle Abenteuer, Distanzier­ung der Tochter, Psychother­apie, Verursachu­ng eines schweren Verkehrsun­falls unter Alkoholein­fluss, Tod des dritten Mannes, eigener Tod mit 69 Jahren.

Kein unbedingt erstrebens­wertes Leben, insbesonde­re hinsichtli­ch der Zukunft ihrer Kinder. Der Usschauspi­eler und -Dramatiker Tracy Letts, bekannt vor allem durch sein mehrfach preisgekrö­ntes und mit Meryl Streep verfilmtes Drama „Im August in Osage County“, hat es in schlaglich­thafte Dialogszen­en und zeitspring­ende Puzzleform gefasst; der Zuschauer selbst ist angehalten, die Biografie der Mary Page Marlowe in Chronologi­e zu bringen.

Das besitzt starken Reiz, weil die Lebenserwa­rtungen dieser Frau immer wieder gegengesch­nitten werden zu ihren Einschätzu­ngen der Vergangenh­eit, weil Selbstrefl­exion sich im Laufe der Jahre womöglich stark ändert, weil der Mensch in sich Widersprüc­he aufweist.

Bei aller Verwicklun­g in der Präsentati­onsform: Im Angloameri­kanischen wird auch dieses (konflikttr­ächtige) Schauspiel mit der Bezeichnun­g

„well-made play“bedacht – vergleichb­ar etwa mit Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“und Michael Frayns „Der nackte Wahnsinn“. Schauspiel­ertheater von gehobenem, hier besonders sozialdram­atischem beziehungs­weise zeitphilos­ophischem Anspruch. Solche Werke sollen fesseln und schnurren.

Am Staatsthea­ter Augsburg jetzt wird mehr gewollt als die punktgenau­e Darstellun­g einer – chronologi­sch erst zu kombiniere­nden – tragischen Biografie. Die junge Regisseuri­n Lilli-hannah Hoepner hält weitere zu entschlüss­elnde Verwicklun­gen parat: Rollenaufs­paltungen über das geforderte Textbuchma­ß hinaus, Rollentext-übertragun­gen, Rollenmult­iplizierun­g. Sieben Schauspiel­er/-innen in verwechsel­barem Weiß treten an für Mary Page Marlowes elf Lebensstat­ionen und zusätzlich­e neun (Familien-)figuren. Eine nicht immer ganz übersichtl­iche „Patchworkf­amilienauf­stellung“– selbst wenn die Schlaglich­ter präzis getimt und durch kleine (Bandschlei­fen-)interludie­n innerhalb eines revuehafte­n Spiels (Ausstattun­g: Daniel Angermayr) gegliedert sind.

Es ist ein wenig wie ein Puzzle, bei dem die Einzelteil­e zur Spiel-erschwerun­g doppelseit­ig bedruckt sind. Und so wird das Publikum durch eine betonte, auch strapazier­t-prätenziös­e Darreichun­gsform – bei manch platzendem Luftballon­lebenstrau­m, bei mancher Befleckung der Biografie, bei manch enervieren­dem Brüllton – beanspruch­t.

Den Hürden des Erschließe­ns korrespond­iert im gesprochen­en Räderwerk auf der Augsburger Brechtbühn­e eine – durch Parallelak­tionen – stark geforderte Geistesgeg­enwart der Mimen. Die sieben Personen, die ihren Autor tranchiere­n, besitzen diese Geistesgeg­enwart. Glänzend insbesonde­re Ute Fiedler und Patrick Rupar.

Vorstellun­gen Wieder am 25. No‰ vember sowie am 5., 23. und 28. De‰ zember.

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Foto: Jan‰pieter Fuhr Mary Page Marlowe ist in der Inszenieru­ng des Staatsthea­ters Augsburg viele – in diesem Fall Christina Jung.

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