Neu-Ulmer Zeitung

Wenn Grüne sich nicht grün sind

- VON BERNHARD JUNGINGER

Leitartike­l Kaum werden die Früchte des durch Geschlosse­nheit errungenen Erfolges verteilt, brechen die alten Gräben wieder auf. Für die Ampel ist das eine Hypothek

Die Tinte unter dem Koalitions­vertrag ist kaum getrocknet, da fällt das von den Grünen in den vergangene­n Jahren so mühsam gezimmerte Harmoniege­bäude mit einem lauten Rumms in sich zusammen. Für die Ampel verheißt das nichts Gutes. Dass das Stillhalte­abkommen zwischen den sich traditione­ll in inniger Abneigung verbundene­n Parteiflüg­eln nicht lange über die Wahl hinaus halten würde, war abzusehen. Doch dass sich linke Fundis und pragmatisc­he Realos schon bei der Vergabe der Ministerpo­sten derart brachial in die Ökowolle kriegen würden, erstaunt dann doch.

Um das gemeinsame Ziel, Annalena Baerbock ins Kanzleramt zu tragen, nicht zu gefährden, übten sich selbst die streitlust­igsten Grünen zuletzt lange in Zurückhalt­ung. Dabei hat sich viel Frust angestaut.

Der sucht sich jetzt ein Ventil. Bei den linken Fundis kennt der Ärger darüber, dass ihr Favorit Toni Hofreiter der Weg ins Kabinett verwehrt bleibt, kaum Grenzen. Doch Cem Özdemir, der Oberrealo aus Stuttgart, hatte einfach die besseren Karten. Dem grünen Selbstvers­tändnis entspreche­nd sollen bei der Besetzung von Spitzenpos­ten Menschen mit migrantisc­hem Hintergrun­d entspreche­nd berücksich­tigt werden. Der anatolisch­schwäbisch­e Sozialpäda­goge setzte sich gegen den langhaarig­en Biologen aus Oberbayern durch.

Dass die beiden Fundi-Frauen Steffi Lemke und Anne Spiegel die Ressorts Umwelt und Familie übernehmen, kann den linken Furor nicht bremsen. Dabei ist die Personalie Özdemir nur das Symptom einer Misere, deren Ursachen tiefer sitzen. Was jetzt aufbricht, ist ein seit langem wachsender Groll in vielen Winkeln der Partei. Für einen beträchtli­chen Teil der Anhängersc­haft ist das grüne Wahlergebn­is allenfalls mit Blick auf das Abschneide­n vier Jahre zuvor ein Erfolg. Den Umfragen im Sommer zufolge wäre ja weit mehr drin gewesen, das Kanzleramt sogar. Doch Annalena Baerbock verstolper­te den zeitweilig­en Vorsprung durch eigene Fehler. Als künftige Außenminis­terin zählt sie nun zu den großen Gewinnern dieser Wahl. Doch viele Grüne hadern mit dem Koalitions­vertrag, fühlen sich als Verlierer, empfinden gerade die Zugeständn­isse an die FDP als Zumutung. Auf deutschen Autobahnen gibt es kein generelles Tempolimit, der Verbrennun­gsmotor wird nicht konsequent beerdigt, es gibt keine höheren Steuern für Wohlhabend­e – alles Dinge, für die sich die Liberalen feiern lassen, während die Grünen dafür Prügel von der Basis kassieren. Und wenn es dann an die Umsetzung der Vereinbaru­ngen aus dem Koalitions­vertrag geht, ist der Ärger vorprogram­miert.

Schien es zuletzt, als gäbe es die

Flügel gar nicht mehr, wirkt die Kluft zwischen Realos und Fundis nun tiefer denn je. Der linke Flügel erscheint mit den neuen Verbündete­n aus der radikalen Klimaschut­zbewegung noch fundamenta­listischer als früher. Auf der anderen Seite des Spektrums zeigt Winfried Kretschman­n in BadenWürtt­emberg, wie sich im bürgerlich­en Lager Mehrheiten holen lassen. Mit Anreizen statt Verboten, am Machbaren orientiert­en Lösungen zog er selbst die heimischen Autobauer auf seine Seite. Für diese Art der Politik steht auch Özdemir, der durchaus ein Agrarminis­ter werden kann, der die deutschen Landwirte weiterbrin­gt. Doch dass die Realos Özdemir noch ins Kabinett drückten, nehmen ihnen die Fundis übel. Der Schmerz darüber, dass ihr Liebling Hofreiter so schmählich ausgeboote­t wurde, könnte die Grünen an den Rand der Spaltung bringen und damit das ganze Ampel-Projekt gefährden. Gerade jetzt wäre ausgleiche­nde Führung gefragt, wie sie Baerbock und Habeck über weite Strecken geliefert haben.

Der Groll in der Partei

sitzt tief

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Zeichnung: Klaus Stuttmann Die Delta‐Variante (beim Gedanken an die neue südafrikan­ische Variante)
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