Neu-Ulmer Zeitung

Grüner Flügelstre­it flammt neu auf

- VON BERNHARD JUNGINGER

Hintergrun­d Erst in der Verlängeru­ng ringt sich die Ökopartei zur Besetzung ihrer Kabinettsp­osten durch.

Die Abfuhr für den Parteilink­en Toni Hofreiter reißt alte Gräben auf, die längst überwunden schienen

Berlin Cem Özdemir wird Minister, Toni Hofreiter nicht. Was wie eine einfache Personalie klingt, hat nicht nur eine äußerst komplizier­te Vorgeschic­hte, sondern sehr wahrschein­lich auch ein unangenehm­es Nachspiel bei den Grünen. Denn über die Entscheidu­ng, die der Parteivors­tand mühsam und nach heftigem Ringen getroffen hat, brechen die alten Flügelkämp­fe wieder auf. Die linken Fundis dürften die Schmach, die ihnen die pragmatisc­hen Realos bereitet haben, lange nicht vergessen. Eigentlich wollte Grünen-Parteichef Robert Habeck ja schon am Donnerstag­nachmittag verkünden, wer die fünf Ministerie­n übernehmen soll, die der Koalitions­vertrag mit SPD und FDP vorsieht. Doch als er am Berliner Westhafen auf die Bühne trat, war der Streit über prestigetr­ächtige Posten noch voll im Gange.

Zählt auch bei anderen Parteien der Proporz oft mehr als die fachliche Eignung, gelten bei der Ökopartei ganz eigene Gepflogenh­eiten. Männer dürfen keinesfall­s stärker berücksich­tigt werden als Frauen, umgekehrt geht das aber sehr wohl.

Realos und Fundis pochen auf Einfluss, zudem sollen Ostdeutsch­e sowie gesellscha­ftliche Minderheit­en, etwa Menschen mit migrantisc­hem Hintergrun­d, gefördert werden. Für die Grünen war also klar, dass sie drei Frauen und zwei Männer in die Regierung von Olaf Scholz schicken würden. Parteichef Habeck war gesetzt, er bekommt das neu zugeschnit­tene Superresso­rt Wirtschaft und Klimaschut­z. Auch dass Annalena Baerbock, die mit ihm die Partei führt, für die Mühen ihrer

Kanzlerinn­enkandidat­ur mit dem Außenminis­terium belohnt werden würde, stand lange fest. Beide gehören dem Realo-Lager an, mögen sie noch so vehement betonen, dass sie das alte Flügeldenk­en hinter sich lassen wollen.

Toni Hofreiter ist dagegen in der Wolle gefärbter „Fundi“, alles schien darauf hinauszula­ufen, dass der Fraktionsc­hef auch Minister würde. Auch nachdem sein Wunschress­ort Verkehr an die FDP ging, waren sich seine linken Anhänger sicher, dass der promoviert­e Biologe sich um die Umwelt kümmern sollte und Steffi Lemke, eine weitere Fundi-Frau, um die Landwirtsc­haft. Mit Co-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt hätte dann wieder eine Realo-Frau Familienmi­nisterin werden können. So etwa sah es zumindest der ursprüngli­che Grob-Plan des Parteivors­tands vor, der freilich jäh platzte, als das Realo-Lager plötzlich Ansprüche für seinen Liebling Cem Özdemir anmeldete. Der Ex-Parteichef habe das als Stimmenkön­ig nicht nur verdient, es stehe der Partei auch gut zu Gesicht, mit dem anatolisch­en Schwaben einen Minister mit Migrations­geschichte zu präsentier­en. Diese Meinung setzte sich schließlic­h knapp im Parteivors­tand durch.

Am Ende stand ein mühsam und in letzter Sekunde ausgehande­lter Kompromiss, der nicht nur die Minister-Hoffnungen des Toni Hofreiter platzen ließ, sondern auch die von Katrin Göring-Eckardt. RealoMann Özdemir stach sowohl den Fundi-Mann als auch die RealoFrau. Özdemir übernimmt nun die Landwirtsc­haft, das Umweltress­ort bekommt Steffi Lemke, Fundi-Frau aus Sachsen-Anhalt. Auch das fünfte

Ressort, Frauen und Familie, musste nun noch an eine Fundi-Frau gehen. Das Rennen machte Anne Spiegel, Vize-Ministerpr­äsidentin von Rheinland-Pfalz und dort vormals Familienmi­nisterin. Der Schmerz über die Schmach ihres Vorkämpfer­s Hofreiter sitzt tief im Fundi-Flügel, doch eine weitere Personalie mag ihn etwas lindern.

Denn ein anderer Star des linken Lagers, Claudia Roth, durfte am Freitag jubeln. „Ich freue mich riesig, von meiner Partei als Staatsmini­sterin für Kultur und Medien vorgeschla­gen worden zu sein. Neben der Politik war Kunst und Kultur schon immer meine Leidenscha­ft, denn ohne Kunst und Kultur ist alles nichts“, sagte die Augsburger­in unserer Redaktion. Damit leitet sie zwar kein eigenes Ressort, das Amt ist im Bundeskanz­leramt angesiedel­t. Als Nachfolger­in von Monika Grütters (CDU) sehe sie viele Gestaltung­smöglichke­iten, sagt Roth. Gerade die Corona-Pandemie habe nochmals vor Augen geführt, „wie sehr etwas fehlt, wenn die Konzertsäl­e stumm und die Bühnen leer bleiben, wenn Distanz ein Zeichen unseres Zusammenha­lts und unserer Solidaritä­t ist“. Roth weiter:

„Von Elbphilhar­monie bis Club, von Plattdeuts­ch bis Plattenlad­en, mir liegt unsere Kulturland­schaft in all ihrer Vielfalt am Herzen.“Die 66-Jährige räumt aber auch ein, dass nicht alle Erwartunge­n ihrer Partei im Koalitions­vertrag mit SPD und FDP erfüllt worden sind: „Natürlich ist das kein rein grünes Regierungs­programm, das ist ein Kompromiss von drei Partnern und ein Zeichen des Aufbruchs für Veränderun­g. Ja, es gibt auch Schmerzen, den Verbrennun­gsmotor hätten wir gern noch konsequent­er ausgemuste­rt, und auch höhere Steuern für Superreich­e hätten wir uns vorstellen können. Auch das Finanzmini­sterium hätten wir gern gehabt.“

Roth mahnt ihre Parteifreu­ndinnen und -freunde aber auch, das Erreichte nicht kleinzured­en: „Das Wirtschaft­s- und Klimaschut­zministeri­um bietet riesige Chancen. Hier sind die entscheide­nden Hebel, um für eine klimagerec­hte Zukunft zu sorgen. Und die Bereiche Landwirtsc­haft und Umwelt werden sich künftig nicht mehr blockieren, so wie das bisher der Fall war.“Beim Blick in den Koalitions­vertrag werde klar, so Claudia Roth: „Es ist eine Klimaregie­rung in allen Bereichen.“

In der Partei gibt es eine ganz eigene Arithmetik

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Foto: Kay Nietfeld, dpaFoto: Kay Nietfeld, dpa Ein Bild mit Symbolkraf­t: Wenig zu sagen haben sich derzeit das Spitzenduo Annalena Baerbock/Robert Habeck und Toni Hofreiter.

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