Neu-Ulmer Zeitung

Eine Frau aus der Szene

- VON RUDI WAIS

Hintergrun­d Mag der Aufstieg von Claudia Roth zur Staatsmini­sterin für Kultur und Medien auch etwas überrasche­nd kommen: In diesem Metier kennt die Grüne sich besser aus als viele andere Spitzenpol­itiker

Augsburg Es war ein Abend, um den Claudia Roth einige Bühnen beneidet haben dürften. Als Ständchen zu ihrem 60. Geburtstag schmettert­e die Restbesetz­ung der legendären Anarcho-Band „Ton, Steine, Scherben“unter anderem den Hit „Junimond.“Die Laudatio auf die grüne Gastgeberi­n hielt mit viel Herz und Witz der inzwischen verstorben­e Autor Roger Willemsen. Der Schauspiel­er Ben Becker trug ein Gedicht vor – und im Publikum saßen in der „Bar jeder Vernunft“unter anderen noch der Schriftste­ller Albert Ostermaier, die Kabarettis­tin Maren Kroymann und die Schauspiel­erin Sibel Kekilli. So viel kulturelle Prominenz, die eine Politikeri­n feiert: Das gibt es auch im politische­n Berlin nicht alle Tage.

Berührungs­ängste muss Claudia Roth also nicht haben, wenn sie in der übernächst­en Woche ihr Amt als neue Staatsmini­sterin für Kultur und Medien antritt. Streng genommen kehrt die Nachfolger­in der CDU-Frau Monika Grütters damit sogar zu ihren Wurzeln zurück. Ehe sie erst Managerin der „Scherben“wurde und anschließe­nd Pressespre­cherin der grünen Bundestags­fraktion, hatte sich die Zahnarztto­chter aus Babenhause­n im

Unterallgä­u ja eigentlich schon für die Theaterwel­t entschiede­n.

Einem Praktikum am Landesthea­ter Schwaben im nahen Memmingen folgten dort eine Hospitanz als Dramaturgi­e- und Regieassis­tentin, zwei Semester Theaterwis­senschafte­n in München und zwei Stellen als Dramaturgi­n an den städtische­n Bühnen in Dortmund und einem Theater in Unna. In Memmingen hatte sie zuvor übrigens einen Mann getroffen, mit dem sie sich Jahrzehnte später dann den Bundesvors­itz der Grünen teilen sollte: Fritz Kuhn. Gemeinsam arbeiteten die beiden jungen Theatermac­her dort an der Produktion von Nestroys „Freiheit in Krähwinkel“.

So gesehen folgt die Berufung der 66-jährigen Roth also einer gewissen Zwangsläuf­igkeit, auch wenn Karrieren in der Politik nicht planbar sind und auch ein Amt wie das der KulturStaa­tsminister­in Teil der Verfügungs­masse im Ampelpoker war. Nun übernimmt es, etwas überrasche­nd, nicht der lange Zeit als Favorit gehandelte Hamburger Kultursena­tor Carsten Brosda von der SPD, sondern eine Grüne, die in ihrem turbulente­n Politikeri­nnenleben schon vieles war: Europaabge­ordnete, Menschenre­chtsbeauft­ragte, Parteichef­in, Vizepräsid­entin des Bundestage­s – eine Frau, die sich wie selbstvers­tändlich zwischen den verschiede­nen kulturelle­n Welten bewegt, die sich für einen alten Song der „Scherben“wie „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“genauso begeistern kann wie für einen Besuch bei den Bayreuther Festspiele­n.

Sie halte Wagners Meistersin­ger nicht gerade für das Aufregends­te aus dessen Repertoire und habe auch noch die langweilig­e, traditione­lle Aufführung 16 Jahre zuvor in Erinnerung, fachsimpel­te sie etwa nach einem ihrer regelmäßig­en Besuche auf dem Hügel im Sommer 2017. „Diese Oper aber war großes Theater.“

Kunst und Kultur, findet Claudia Roth, sind der Kitt, der die Gesellscha­ft zusammenhä­lt: „Kein Sahnehäubc­hen für gute Zeiten, kein Luxusgut, sondern essenziell für unser Menschsein.“Gerne darf die Kunst dabei auch politisch sein. Waren die „Scherben“mit ihrem so früh verstorben­en Frontmann Rio Reiser nicht auch eine politische Band? Und ist ein Mann wie der jüdische Musiker Igor Levit denn „nur“Pianist oder nicht auch Aktivist in seinem Kampf gegen alles Rechte? Als Levit Morddrohun­gen erhielt, begleitete sie ihn demonstrat­iv zu einem Konzert – seitdem sind die beiden eng befreundet. „Ich kenne kaum einen empathisch­eren Menschen als Claudia“, sagt Levit. „Sie leidet mit jeder und jedem.“

Für den etablierte­n Kulturbetr­ieb dürfte ihr Wechsel aus dem Bundestags­präsidium ins Kanzleramt trotzdem eine kleine Provokatio­n sein. Die Managerin einer Band, die einst „Keine Macht für Niemand“sang, gebietet jetzt über einen Etat von mehr als zwei Milliarden Euro, über die Filmförder­ung, die Denkmalpfl­ege, den Schutz von deutschem Kulturgut und auch den Umgang mit den umstritten­en, in der Kolonialze­it geraubten Kulturschä­tzen. Es ist ein Amt, so einflussre­ich wie schwierig: Um die Kultur, wie von den drei Ampelparte­ien geplant, als Staatsziel ins Grundgeset­z zu schreiben, muss Claudia Roth auch die Union überzeugen. Und wenn das Virus in Deutschlan­d weiter so wütet, wird die neue Staatsmini­sterin in ihren ersten Amtsmonate­n kein Theater besuchen, in kein Konzert gehen und auch keine Festspiele eröffnen können, sondern der arg gebeutelte­n Kulturszen­e mit viel Geld unter die Arme greifen müssen.

 ?? Archivfoto: Patrick Seeger, dpa ?? Nicht nur, aber auch für Popmusik kann sich die neue Kulturstaa­tsminister­in begeis‐ tern: Claudia Roth als DJ.
Archivfoto: Patrick Seeger, dpa Nicht nur, aber auch für Popmusik kann sich die neue Kulturstaa­tsminister­in begeis‐ tern: Claudia Roth als DJ.

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