Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (83)

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JDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

etzt kamen wir nicht nur nicht weiter, wir wurden auf das offene Meer zurückgetr­ieben. Ich kämpfte mit den Riemen, bis ich nicht mehr konnte. Die arme Maud, der ich die harte Arbeit nicht hatte ersparen können, lehnte sich erschöpft gegen den Achterstev­en. Meine geschwolle­nen Hände vermochten sich nicht mehr um die Riemen zu schließen. Handgelenk­e und Arme schmerzten mich unerträgli­ch, und obgleich ich um zwölf Uhr tüchtig gegessen hatte, war ich nach der harten Arbeit schwach vor Hunger.

Ich zog die Riemen ein und beugte mich hinüber zu der Leine, die das Floß hielt. Aber Mauds Hände streckten sich abwehrend nach den meinen aus.

„Was wollen Sie tun?“fragte sie mit erhobener Stimme.

„Es loswerfen“, antwortete ich, indem ich einen Törn von der Leine ausließ.

Aber ihre Finger umschlosse­n die meinen.

„Bitte, tun Sie es nicht“, bat sie. „Es hat keinen Zweck“, erwiderte ich. „Es ist schon Nacht, und der Wind treibt uns vom Lande ab ins Meer hinaus.“

„Aber denken Sie daran, Humphrey, wenn wir nicht auf der ,Ghost‘ fortsegeln, können wir jahrelang auf der Insel bleiben – vielleicht das ganze Leben. Ist sie bis heute nicht entdeckt worden, so wird sie es vielleicht nie.“

„Sie vergessen das Boot, das wir auf dem Strande fanden“, erinnerte ich sie.

„Das war ein Robbenfäng­erboot,“entgegnete sie, „und Sie wissen gut, daß die Männer, wenn sie entkommen wären, zurückgeke­hrt sein würden, um auf der Rookery ihr Glück zu machen. Sie wissen, daß sie nicht entkommen sind.“

„Lieber Jahre auf der Insel, als heute nacht oder morgen oder einen der nächsten Tage in dem offenen Boot umzukommen. Wir sind nicht in der Lage, dem Meere standzuhal­ten. Wir haben weder Nahrung, noch Wasser, noch Decken – gar nichts. Sie werden die Nacht nicht ohne Decke überleben. Ich kenne Ihre Kräfte. Sie zittern jetzt schon.“

„Nur aus Nervosität. Ich fürchte, daß Sie die Masten trotz meiner Bitte loswerfen. Ach bitte, bitte, Humphrey, tun Sie es nicht!“rief sie.

Und so endete es mit den Worten, die, wie sie wußte, eine solche Macht über mich besaßen, daß ich nicht widerstehe­n konnte. Wir litten furchtbar die ganze Nacht. Hin und wieder schlief ich ein, aber immer wieder weckte mich die schmerzhaf­te Kälte. Wie Maud es aushielt, ist mir unbegreifl­ich. Ich war zu müde, um die Arme zusammenzu­schlagen und mich selbst warm zu halten, aber ich fand hin und wieder die Kraft, ihre Hände und Füße zu reiben, um ihr Blut wieder kreisen zu lassen. Und trotzdem bat sie mich immer noch, nicht die Masten im Stich zu lassen. Gegen drei Uhr morgens wurde sie von einem Krampf befallen, und als ich sie durch Reiben wieder zu sich gebracht hatte, lag sie eine Zeitlang ganz still da. Ich war tief erschrocke­n. Ich legte die Riemen aus und ließ sie rudern, obgleich sie so schwach war, daß ich bei jedem Schlage befürchten mußte, sie in Ohnmacht fallen zu sehen.

Der Morgen brach an, und in dem wachsenden Licht hielten wir lange Ausschau nach unserer Insel. Schließlic­h zeigte sich ein kleiner schwarzer Punkt, volle fünfzehn Meilen entfernt, am Horizont. Ich sah mit dem Glase über das Meer. Ganz in der Ferne, in Südwest, konnte ich einen dunklen Strich auf dem Wasser sehen, der sich immer mehr vergrößert­e.

„Günstiger Wind!“rief ich, aber so heiser, daß ich meine eigene Stimme kaum erkannte.

Maud versuchte zu antworten, konnte jedoch keinen Ton hervorbrin­gen. Ihre Lippen waren blau vor Kälte – aber ach, wie tapfer blickten ihre braunen Augen mich an!

Wieder begann ich, ihr Hände und Füße zu reiben und die Arme auf und nieder zu schwingen, bis sie es selbst vermochte.

Dann kam der Wind, ein frischer, günstiger Wind, und bald arbeitete sich das Boot durch eine schwere See der Insel zu. Um halb vier Uhr nachmittag­s passierten wir das südwestlic­he Vorgebirge. Wir waren jetzt nicht nur hungrig, sondern litten auch Durst. Unsere Lippen waren ausgetrock­net und aufgesprun­gen, und wir konnten sie nicht mehr mit der Zunge befeuchten. Da legte sich der Wind. Gegen Abend herrschte völlige Windstille, und ich arbeitete wieder mit den Riemen – aber schwach, sehr schwach. Um zwei Uhr morgens stieß der Bug unseres Bootes gegen den Strand der inneren Bucht, und ich wankte an Land, um die Fangleine festzumach­en. Maud konnte nicht mehr auf den Füßen stehen, und ich hatte nicht die Kraft, sie zu tragen. Ich fiel mit ihr in den Sand, und als ich wieder hochkam, begnügte ich mich, sie unter die Schulter zu fassen und den Strand hinauf nach der Hütte zu ziehen.

Am nächsten Tage arbeiteten wir nicht. Wir schliefen bis drei Uhr nachmittag­s, oder wenigstens ich tat es, denn als ich erwachte, war Maud schon dabei, das Mittagesse­n zu bereiten. Es war wunderbar, wie schnell sie sich erholte. Ihrem zarten Körper wohnte eine Kraft inne, die man ihr nicht zugetraut hätte.

„Sie wissen doch, daß ich meiner Gesundheit wegen nach Japan reiste“, sagte sie, als wir nach dem Essen am Feuer lagerten und uns dem süßen Nichtstun hingaben. „Ich war nicht sehr kräftig, bin es nie gewesen. Die Ärzte rieten mir eine Seereise, und ich habe mir die allerlängs­te ausgesucht.“

„Sie ahnten nicht, was Sie sich aussuchten“, lachte ich.

„Aber ich bin eine ganz andere geworden, und kräftiger auch,“erwiderte sie, „und ich hoffe, auch besser. Wenigstens werde ich jetzt ein ganz Teil mehr vom Leben verstehen.“Als dann der kurze Tag verschwand, kamen wir auf Wolf Larsens Blindheit zu sprechen. Sie war uns unerklärli­ch. Daß es Ernst war, darauf ließ seine Erklärung schließen, daß er auf der Mühsalinse­l bleiben und sterben wollte. Wenn dieser starke Mann, der das Leben so liebte, an sein nahes Ende glaubte, so war es klar, daß seine Blindheit nicht alles war, was ihn plagte. Er litt an seinen furchtbare­n Kopfschmer­zen, und wir wurden uns einig, daß es sich um ein Versagen seines Gehirns handeln mußte, und daß er in seinen Anfällen größere Qualen zu erdulden hatte, als wir uns vorstellen konnten.

Während wir über seinen Zustand sprachen, beobachtet­e ich, wie Mauds Mitleid mit ihm immer mehr wuchs; ich konnte nicht anders, ich mußte sie um so mehr lieben deshalb, so echt weiblich war es! Auch lag in ihrem Gefühl nicht die geringste Sentimenta­lität. Sie stimmte mir bei, daß wir mit der größten Härte vorgehen mußten, wenn wir von hier fortkommen wollten, obgleich sie vor dem Gedanken zurückscha­uderte, daß ich, um uns zu retten, vielleicht gezwungen war, ihn zu töten.

Am nächsten Morgen frühstückt­en wir, und als der Tag anbrach, waren wir schon an der Arbeit.

» 84. Fortsetzun­g folgt

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