Verstörende Bilder in verstörenden Zeiten
Jahresschau Die Große Schwäbische Kunstausstellung widmet sich auch heuer wieder der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit kreatives Schaffen den Rang von Kunstwürdigkeit annimmt
Augsburg Wenn an diesem Samstag die 73. Große Schwäbische Kunstausstellung im Glaspalast Augsburg eröffnet wird (11 Uhr), dann geschieht dies wieder sozusagen in aller Stille: keine Eröffnungsrede, keine Musik, kein gesellschaftlicher Auftrieb. Es gilt 2 G plus und Besucherbegrenzung; die Hürden mithin sind alles andere als einladend. So verständlich die Maßnahmen auch sind: Es legt sich erneut gleichsam Mehltau über die Kunst und ihre Darbietungsformen in Ausstellungshallen, Theatern, auf Konzertpodien, Kleinkunstbühnen etc.
Nicht dass der Hauptzweck der Großen Schwäbischen der Verkauf der ausgestellten Werke wäre – statt einer Querschnitts- und Leistungsschau professioneller Künstler zwischen Nördlingen und Lindenberg im Allgäu –, aber die Hoffnung auf eine gewisse Wertschätzung beim Publikum begleitet sie gleichwohl – und deshalb ist es alles andere als erhebend, wenn Norbert Kiening, Vorsitzender des ausrichtenden BBK Schwaben-Nord und Augsburg, erklärt, dass im letzten Corona-Winter lediglich eine Arbeit den Eigentümer wechselte (und zwar in Privathand, nicht in die öffentliche Hand), und dass er mittlerweile daran zweifle, ob mit der Form der Großen Schwäbischen in musealer Ausstellungshalle „überhaupt noch in die richtige Richtung gearbeitet wird“. Kurz: Die Lage ist nicht hoffnungslos, aber auf absehbare
Zeit – das heißt bis Ende der Schau – wohl doch eher trist.
Publikum mit der lakonischschönen Einstellung „Ars longa, vita brevis“könnte der Sache aufhelfen, zumal die 73. Ausgabe eine unerwartete Überraschung bietet. Waren die Klagen von Juroren der letzten Jahre unüberhörbar, dass in Sachen Installation und Video-Kunst die Qualität und Quantität der eingereichten, dann oft nicht angenommenen Werke noch zu wünschen übrig lasse, so finden sich aktuell drei beachtliche Video-Arbeiten in der Schau: Nina Zeilhofer dokumentiert in „Metamorphose“den kalten Bagger-Abbruch der Augsburger Musikbühne „Kantine“hinter zusammengesammelten Gebäude-Fragmenten – und verweist dermaßen auch darauf, dass in jedem (bedauernswerten) Ende auch der Zauber eines quasi recycelten Neuanfangs innewohnen kann (Foto unten). Ruth Strähhuber zeigt in „Sichtbar, Blatt für Blatt“vieldeutig eine ganzkörpergeschminkte schwarze Frau im Dunkeln, die durch Waschen langsam erkennbar wird – und verweist damit auch auf die Prinzipien von Verbergen, Auftauchen, Angreifbarkeit. Karen Irmer schließlich nahm einen träge dahinfließenden Fluss vor einer (Gebäude-)Spiegelung auf und kreist mit ihrem nachdenklichen Loop um den Antagonismus von Wandel und Stetigkeit.
Was aber Installationen angeht, so fallen positiv überraschend zumindest ebenfalls drei Werke ins Auge: Nena Cermaks (Schaum-) Stoff-Stele „Composer“, die beunruhigende plastische Abbilder innerer Organe zu einer Neu-Kreatur zwingt; Maria Breuers „Kollektives Schweigen“, das coronabedingt 26 in Beton getauchte, konservierte, „schweigende“Gesangsbücher auf dem Boden arrangiert; Bernd Rummerts „Kunstrasen“, der den Kunstpreis der Stadt Augsburg erhält (2000 Euro) „als Frage an uns, an unsere Zeitlichkeit, unseren Bezug zur Zeit, an unsere Art zu leben, unsere Art zu konsumieren“(JuryBegründung). Die formbare Bodenarbeit, eine Art Kettenhemd mit stacheligen Drahtstiften, darf durch ihre Betrachter immer wieder neu gestaltet werden.
Und noch mal ein Dreisprung, nun von Wandarbeiten, die in Form, Handwerk, Inhalt besonders bemerkenswert sind – und darüber hinaus zum Reflektieren anregen: Der Holzschneider Wolf J. Gruber kombiniert athletische Frauen- und Männergliedmaßen zu nackten, surrealistischen, verstörenden, diversprovokativen Ganzkörper-Posen (Foto oben); Gitta Pielcke hält mit Acryl ebenso verstörend eine „Ferkelkastration“fest – und wirft damit gleichzeitig die Frage auf, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Kunst, speziell die Malerei, ein geeignetes Mittel der Anklage ist. Dazu lässt Otto Scherers spektakuläres „Goldwellenbild“aus glasierter, vergoldeter Keramik sondieren, welche Voraussetzungen zu beachten sind, damit auch Oberflächenglanz zu Kunstwürdigkeit gerät.
Was ist noch hervorzuheben unter den (zufällig) 73 Werken der 73. Großen Schwäbischen von 41 Künstlerinnen und 26 Künstlern, auch des BBK Allgäu/SchwabenSüd? In aller Regel weniger jene Arbeiten, die sich scheinbar oder tatsächlich Inspiration bei großen oder zumindest größeren Kollegen holen (Hockney, Kiefer, Richter, Adolf Luther, Cornelia Schleime) als jene Arbeiten, die einen eigenen, womöglich originären Weg suchen: Gertrud von Winckler gelingt eine kleine lyrische Arbeit, indem sie Stecknadeln seriell in Transparentpapier sticht („Mit der Zeit geformt“); Ebby Hauser blickt fotografisch eindrucksvoll aus einem holzvertäfelten Saal des Dresdner Zwingers hinaus auf eine Baustelle; Christian Amerigo Odato erzeugt ein Aquarell, das eine trostlose Vorort-Siedlung wiedergibt als ob’s ein Druck mehrerer, nicht passgenauer Platten wäre. By the way: Die teuerste Arbeit, ein „Tannen“-ÖlTriptychon, stammt von Harry Meyer (32 000 Euro), die günstigste vom Fotografen Harry Vogt („Telefon“, „Balkon“, je 120 Euro).
Laufzeit bis 9. Januar außer montags, Heiligabend, Silvester (10 – 17 Uhr)