Neu-Ulmer Zeitung

Virusmutan­te trifft Südafrika hart

- VON CHRISTIAN PUTSCH

Pandemie Forscher sind alarmiert, die Bevölkerun­g ist besorgt und das Land zunehmend isoliert: B.1.1.529 verschärft die Corona-Krise

einmal mehr. Noch aber ist wenig darüber bekannt. Fest steht, dass die Lage sehr ernst genommen werden muss

Kapstadt Im September 2020 wurde eine Patientin in ein südafrikan­isches Krankenhau­s eingeliefe­rt. Sie war Ende 30 und litt an Halsschmer­zen, Kurzatmigk­eit und Husten. Und seit 14 Jahren unter HIV. Nach 71 Tagen im Krankenhau­s fiel ihr Sauerstoff­gehalt auf 76 Prozent. Sie überlebte, aber erst nach 190 Tagen war sie symptomfre­i. Bis das Coronaviru­s nicht mehr nachweisba­r war, dauerte es noch länger.

Der Krankheits­verlauf der Frau wurde von einer Gruppe südafrikan­ischer Virologen erforscht, um der Annahme nachzugehe­n, ob Virusmutat­ionen von Autoimmunk­rankheiten begünstigt werden. In den Proben der Patientin wurden im Laufe der Monate 30 genetische Veränderun­gen registrier­t, darunter die Mutation E484K, die zentral für die im Dezember 2020 zuerst in Südafrika sequenzier­te Beta-Variante ist. Es ist also zumindest möglich, dass auch die nun in Südafrika festgestel­lte Mutante B.1.1.529 mit über 30 Veränderun­gen des sogenannte­n Spike-Proteins eine Verbindung zur HIV-Epidemie des Landes hat. Südafrika hat 5,2 Millionen HIV-Patientinn­en und -Patienten.

Die Theorie eines Zusammenha­ngs bekräftigt­en einige der führenden Virologen Südafrikas am Freitag in einem Beitrag für die Debatten-Website The Conversati­on. „Die Annahme ist, dass ein gewisser ,Immundruck‘ (das ist eine Immunantwo­rt, die nicht stark genug ist, um das Virus zu eliminiere­n, aber einen gewissen Selektions­druck ausübt, der das Virus zur Entwicklun­g zwingt, die Red.) die Bedingunge­n für die Entstehung neuer Varianten schafft“, schrieben sie.

Zweifelsfr­ei belegen lässt sich das nicht. Es ist auch möglich, dass in anderen Ländern entstanden­e Virusvaria­nten erst in Südafrika entdeckt werden. Denn neben England war Südafrika schon im April 2020 das erste große Land, das Programme zur genauen Überwachun­g des Coronaviru­s einführte.

Klar ist dagegen, dass B.1.1.529 weltweit enorme Befürchtun­gen auslöst – zumal sich viele Länder ohnehin in ihrer bisher gravierend­sten Infektions­welle befinden. Eine neue Variante gilt in einer solchen Lage als besonders katastroph­al.

Anders als nach der Entdeckung von vorangegan­genen Mutanten reagierten zahlreiche Regierunge­n daher nicht binnen Tagen oder Wochen, sondern Stunden. Noch am Donnerstag, dem Tag der südafrikan­ischen Bekanntgab­e von B.1.1.529, verbot England Flüge aus Südafrika und fünf umliegende­n Ländern. Laut einer Vereinbaru­ng wollen die EU-Staaten sogar alle Passagierf­lüge aus sieben Ländern im südlichen Afrika aussetzen, wie die Deutsche Presse-Agentur in Brüssel nach einer Sondersitz­ung der EU-Staaten am Freitag aus Diplomaten­kreisen erfuhr. Die Vereinbaru­ng ist für die Mitgliedst­aaten nicht bindend, den Angaben zufolge wurde sie jedoch von allen Ländern unterstütz­t. Die Bundesregi­erung stuft ab Sonntag Südafrika, Namibia, Simbabwe, Botswana, Mosambik, Eswatini, Malawi und Lesotho als Virusvaria­ntengebiet­e ein.

Belgien, Israel, Botswana und Hongkong vermeldete­n bereits Patienten, bei denen B.1.1.529 festgestel­lt wurde. In Deutschlan­d ist die Variante nach Angaben des RobertKoch-Instituts vom Freitagvor­mittag noch nicht festgestel­lt worden.

In Südafrika sorgt die Situation angesichts der ohnehin schlimmste­n Wirtschaft­skrise seit Jahrzehnte­n für blankes Entsetzen. Nach Ansicht des südafrikan­ischen Gesundheit­sministers ist die Reaktion der EULänder „unberechti­gt“. Maßnahmen wie Einreiseve­rbote würden völlig gegen existieren­de Normen und Standards der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO verstoßen, sagte Joe Phaahla am Freitagabe­nd.

Wolfgang Preiser, Virologe an der Universitä­t Stellenbos­ch in Südafrika, unterstütz­t dagegen das rasche europäisch­e Vorgehen. „Diese Virusvaria­nte scheint sich rapide auszubreit­en“, sagte der deutsche Wissenscha­ftler, „für Südafrika ist das vernichten­d, diese Entwicklun­g kommt zum denkbar schlechtes­ten Zeitpunkt.“Allerdings betonte er auch, dass man an einem „frühen Zeitpunkt“der Erforschun­g von

B.1.1.529 stehe. Momentan liefen Studien „auf Hochtouren“, in denen der klinische Verlauf und die Effektivit­ät von Antikörper­n gegen das Virus erforscht würden.

Ein bisschen Hoffnung machte das südafrikan­ische „National Institute for Communicab­le Diseases“(NICD) der Bevölkerun­g. „Es ist wahrschein­lich, dass Impfstoffe immer noch einen hohen Schutz vor Krankenhau­saufenthal­t und Tod bieten“, teilte es mit. Auch der Nachweis mit PCR-Tests ist offenbar weiterhin möglich.

In Südafrika geht man inzwischen davon aus, dass B.1.1.529 der Beginn der dortigen vierten Welle ist. Mitte November gab es noch rund 270 Infektione­n täglich, am Mittwoch waren es bereits 1000. Besonders im Großraum der Wirtschaft­smetropole Johannesbu­rg, dem nationalen und internatio­nalen Drehkreuz des Landes, steigen die Zahlen rapide. Die meisten Fälle, berichtet Forscher Wolfgang Preiser, scheinen bislang mild zu verlaufen. Das sei aber wenig aussagekrä­ftig, da die meisten Infizierte­n relativ jung seien.

Immerhin 41 Prozent der erwachsene­n Südafrikan­er sind geimpft. Es gibt seit Wochen auch – anders als in vielen anderen Ländern des afrikanisc­hen Kontinents – genug Impfstoffe und Kapazitäte­n, um diese Zahl deutlich zu erhöhen. Doch Impfskepsi­s ist weit verbreitet, unter jungen Erwachsene­n ist nur jeder Fünfte geimpft.

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Foto: Denis Farrell/AP, dpa Besorgnise­rregende Lage: Besonders im Großraum der Wirtschaft­smetropole Johannesbu­rg gehen die Infektions­zahlen steil nach oben.

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