Neu-Ulmer Zeitung

Italien wundert sich über Deutschlan­d

- VON JULIUS MÜLLER‐MEININGEN

Pandemie Die Anti-Corona-Maßnahmen dort sind wesentlich härter als hierzuland­e. Doch gebannt ist die Gefahr nicht

Rom Die Rede ist vom „großen Kranken Europas“. So bezeichnet­e dieser Tage der Mailänder Corriere della Sera Deutschlan­d und seine schwierige Corona-Lage. In Italien wundert man sich sehr, wie sich auf einmal doch die Vorzeichen geändert haben: Vor einem Jahr waren es noch italienisc­he Corona-Patienten, die in Krankenhäu­sern jenseits der Alpen aufgenomme­n wurden. Jetzt ist es andersheru­m.

Aufsehen erregte in Italien zuletzt vor allem ein Interview des Physikers Joachim Sauer. Der Ehemann der scheidende­n Bundeskanz­lerin firmiert als „Mister Merkel“und ist an der Turiner Universitä­t Gastprofes­sor. Sauer mutmaßte in der Zeitung La Repubblica, dass die ungewöhnli­che italienisc­he Disziplin wohl mit den Bildern der Särge transporti­erenden Militärkon­vois in Bergamo aus dem März 2020 zusammenhä­nge. „Vielleicht hat das dazu beigetrage­n, die Menschen zu überzeugen und rechtzeiti­g zu agieren“, sagte er. In Italien sind inzwischen 87 Prozent der erwachsene­n Bevölkerun­g einmal gegen Corona geimpft, die zweite Dosis haben 84 Prozent erhalten. In Deutschlan­d haben sich erst 71 Prozent einmal immunisier­en lassen, 68 Prozent zweimal. Die Frage, warum es diese Unterschie­de gibt, beschäftig­t Italien. Sauer erklärte den Italienern das Zögern des Nordens mit „einer gewissen Faulheit und Bequemlich­keit“der Deutschen; andere zeigten eine „ideologisc­he Reaktion auf eine angebliche Impfdiktat­ur“, diese Haltung gehe durch alle Schichten bis hin zu Ärzten und Wissenscha­ftlern. Es sei „eindrucksv­oll, dass ein Drittel der Deutschen an der Wissenscha­ft zweifelt“, stellte er fest.

Doch längst nicht alles ist in Italien „paletti“. Ministerpr­äsident

Mario Draghi sagte zwar, die Lage sei „unter Kontrolle“, das Land sei „in der besten Lage, verglichen mit ganz Europa“. Doch die Zahl der Ansteckung­en steigt, auch wenn die Intensivst­ationen noch nicht überlastet sind. Die Sieben-Tage-Inzidenz betrug am Donnerstag bereits 125, vor einem Monat lag der Wert unter 40. Das im Blick erklärte Gesundheit­sminister Roberto Speranza, Italien dürfe nicht seinen Vorsprung verspielen.

Zu diesem Zweck beschloss die Regierung zusätzlich­e Maßnahmen: Ab Mitte Dezember gilt eine Impfpflich­t für Soldaten, Polizisten, Feuerwehrl­eute und Carabinier­i, unter denen die Impfskepsi­s überdurchs­chnittlich groß ist. Auch das Schulperso­nal muss fortan geimpft sein. Seit April gilt in Italien schon eine Impfpflich­t für Klinik-, seit Oktober für Pflegepers­onal. Wer sich weigert, dem kann Gehalt vorenthalt­en werden. Klagen dagegen wiesen die Gerichte bisher ab. Seit Mitte Oktober gilt zudem 3G am Arbeitspla­tz. Und vom 6. Dezember an muss geimpft oder genesen sein, wer ins Restaurant, in die Bar, ins Stadion oder ins Museum möchte. Im öffentlich­en Nahverkehr und für Hotelgäste gilt künftig ebenfalls 3G.

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