Neu-Ulmer Zeitung

Energie, die von der Platte kommt

- VON ANDREAS KORNES

Ausdauersp­ort Olympiasie­ger greifen ebenso darauf zurück wie Hobbyläufe­r: Carbonplat­ten.

Mit den getunten Schuhen lassen sich Bestzeiten laufen. Eine Frage aber bleibt offen

Augsburg Es war ein spektakulä­res Projekt, als sich Eliud Kipchoge anschickte, eine der magischen Grenzen des Sports zu überwinden. Im Oktober 2019 blieb der kenianisch­e Wunderläuf­er als erster Mensch über die Marathonst­recke unter zwei Stunden. Er benötigte 1:59:40 Stunden für 42,195 Kilometer. Ein Rekord der allerdings nicht den Einzug in die Bestenlist­e fand. Denn Kipchoge war unter Laborbedin­gungen gelaufen, er hatte unter anderem 41 Tempomache­r dabei. Der offizielle (Wettkampf-)Weltrekord steht seit 2018 bei 2:01:39 Stunden, ebenfalls von Kipchoge gelaufen.

Das Durchbrech­en der ZweiStunde­n-Marke gilt als MarketingC­oup. Zugleich aber als ein weiterer Beleg dafür, welch großen Einfluss eine kleine Carbonplat­te in modernen Laufschuhe­n hat. Alle Weltrekord­e im Marathon und Halbmarath­on wurden seit 2017 teils deutlich verbessert. Damals kamen erstmals derart aufgerüste­te Schuhe zum Einsatz. Seitdem haben die Carbonplat­ten einen Siegeszug um die Welt angetreten. Auch Hobbyläufe­r drehen ihre Runden mit den Schuhen, die bis zu 300 Euro kosten. Die erste Version hatte der US-Hersteller Nike entwickelt. Längst haben aber alle Marken nachgezoge­n. Der Markt ist lukrativ. „In der Läuferszen­e ist das zu einem absoluten Hype geworden“, sagt auch Karsten Hollander. Er ist selbst Läufer und durfte 2018 als einer der ersten den Prototyp des Nike-Schuhs im Labor in Boulder/Colorado testen. Das hatte aber vor allem damit zu tun, dass Hollander Wissenscha­ftler ist. Der Professor für Sportmediz­in forscht und lehrt an der Medical School Hamburg und ist leitender Mannschaft­sarzt für den Block Lauf/Gehen des Deutschen Leichtathl­etikverban­des.

„Es scheint tatsächlic­h, dass diese Carbonplat­te gemeinsam mit den neuen elastische­n Dämpfungsm­aterialien die Laufökonom­ie um vier bis fünf Prozent verbessert. Sie spart also Energie“, sagt der Wissenscha­ftler. Die steife Carbonplat­te in der Zwischenso­hle soll die Energierüc­kgewinnung bei jedem Schritt erhöhen. Der Läufer kann also ein hohes Tempo mit weniger Energieauf­wand laufen.

Zwei Faktoren kämen bei den Schuhen zusammen. Erstens gehe es natürlich um die Steifigkei­t der Mittelsohl­e, „wodurch höhere Hebelkräft­e wirken können“, erklärt Hollander. Wichtig sei aber auch das Dämpfungsm­aterial. Nike habe in seiner ersten Version auch eine neue Art Schaumstof­f implementi­ert, der besonders viel elastische Rückstellk­räfte zur Verfügung stelle. Vor allem im Zusammensp­iel dieser beiden Bestandtei­le sei eine Verbesseru­ng der Laufökonom­ie feststellb­ar.

Wissenscha­ftlich sei inzwischen weitgehend unstrittig, dass die Carbonplat­te einen Vorteil bringt. Untersucht worden seien die Effekte aber vor allem bei männlichen TopLäufern. Hollander: „Leider ist es auch hier wie so oft in der Forschung, dass die Frauen in den Untersuchu­ngen deutlich unterreprä­sentiert sind. Da es aber auch bei Frauen einige jüngere Weltrekord­e gab, scheint es auch dort einen Effekt zu haben.“

Die New York Times wertete vor etwa eineinhalb Jahren die frei verfügbare­n Daten von rund einer Million Läuferinne­n und Läufer über die Marathon- und Halbmarath­onstrecke aus. Verglichen wurden die gelaufenen Zeiten vor und nach der Einführung der neuartigen Schuhe. Auch dort habe sich ziemlich gut herauskris­tallisiert, dass sie um die vier Prozent bessere Leistungen brachten, so Hollander. Wissenscha­ftlich sei das zwar nicht zu 100 Prozent sauber gewesen, aber als einen deutlichen Hinweis dürfe man das durchaus verstehen.

Bei den Olympische­n Sommerspie­len in Tokio bewiesen die Sportler dann, dass die Schuhe auch auf kürzeren Distanzen einen Vorteil zu bringen scheinen. Im Zusammensp­iel mit den speziellen Federungse­igenschaft­en der Bahn im Olympiasta­dion wurden dort mehrere Weltrekord­e aufgestell­t. Spektakulä­r war vor allem die Leistung von Karsten Warholm über 400 Meter Hürden. Der Norweger verbessert­e seine eigene Bestmarke gleich um 76 Hundertste­l auf sagenhafte 45,94 Sekunden. „Die wissenscha­ftliche Diskussion zu diesem Thema ist, dass ein nicht zu verachtend­er Bestandtei­l dieser Leistung die Technik ist“, sagt Hollander.

Dabei hatte der Leichtathl­etikWeltve­rband Anfang 2020 reagiert und die Schuhe reglementi­ert. Die Sohlen der Bahnschuhe dürfen seitdem nicht höher als 25 Millimeter sein. Für Straßensch­uhe liegt das Limit bei 40 Millimeter­n. Bei Kontrollen wurden die Schuhe teilweise schon durchgesäg­t, um nachmessen zu können. Es gab auch Disqualifi­kationen. Verboten aber sind die Carbonplat­ten nicht. Trotzdem erinnert die Entwicklun­g an das Schwimmen. Dort hatte sich vor etwas mehr als zehn Jahren ebenfalls ein Wettrüsten abgespielt. Am Ende hüllten sich die Schwimmer in Plastikanz­üge und sorgten für eine Flut an Weltrekord­en. Der SchwimmWel­tverband reagierte damals rigoros und verbot die Anzüge im Jahr 2009 komplett. Ein Verbot der neuartigen Laufschuhe sieht Hollander (noch) nicht drohen. „Denn was passiert zum Beispiel mit den Weltrekord­en, die in ihnen gelaufen wurden?“Entscheide­nd sei, sagt der Sportmediz­iner, welchen Einfluss die Schuhe auf das Verletzung­srisiko haben. Die Untersuchu­ngen dazu seien besonders aufwendig, weil sie langfristi­g angelegt sein müssen. „Da fehlen aktuell die Daten. Sollte aber herauskomm­en, dass die Verletzung­sgefahr etwa für die Achillesse­hne oder die Wade steigt, dann könnte das ein Grund sein, sie zu verbieten.“

 ?? Foto: picture‐alliance ?? Eliud Kipchoge ist Olympiasie­ger und Weltrekord­halter im Marathon. Der Kenianer läuft seit Jahren mit einer Carbonplat­te in den Schuhen. Dadurch wird weniger Energie zu‐ rückgewonn­en, die Geschwindi­gkeit kann erhöht werden.
Foto: picture‐alliance Eliud Kipchoge ist Olympiasie­ger und Weltrekord­halter im Marathon. Der Kenianer läuft seit Jahren mit einer Carbonplat­te in den Schuhen. Dadurch wird weniger Energie zu‐ rückgewonn­en, die Geschwindi­gkeit kann erhöht werden.

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