Neu-Ulmer Zeitung

„Das Tröstliche: In jedem meiner Kinder erkenne ich ein anderes Stück aus meinem verlorenen Sohn.“

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WAS BEDEUTET FAMILIE HEUTE? WAS MACHT SIE AUS? UND WAS HÄLT SIE ZUSAMMEN? WIR STELLEN DIESE FRAGEN DENEN, DIE SIE AM BESTEN BEANTWORTE­N KÖNNEN

In der Serie „Familienal­bum“erzählen wir die Geschichte­n von großen und kleinen Familien, von Regenbogen­familien, Patchworkf­amilien oder Mehr-Generation­en-Familien, kurz: von jedem, der sich als Familie fühlt. Dieses Mal mit Stefania, die mit ihrem Mann fünf Kinder hat und in Neuburg wohnt. Ein Sohn starb bei einem Unfall.

Familie Zu meiner Familie gehören mein Mann Peter, unser Hund Beppo und fünf Kinder: Die drei Jüngsten sind Samuel (13), Gioia (16) und Matteo (21) und leben bei uns. Samuel geht in die achte Klasse, Gioia macht eine Ausbildung zur Verwaltung­sfachanges­tellten und Matteo arbeitet im ITSupport. Mein zweitältes­ter Sohn Elias ist vor zweieinhal­b Jahren im Alter von 20 tödlich verunglück­t. Mein ältester Sohn Leon (27) ist Anwendungs-Programmie­rer und für ein Sabbatical nach Barcelona gezogen. Anfänge Meinen Mann habe ich 1989 in München kennengele­rnt, wo er seine Ausbildung machte, dann bekam ich 1991 ein Job-Angebot in Berlin. Also lebte ich wochentags dort und kam am Wochenende nach Bayern. Das war gar nicht einfach, denn Telefonges­präche und Reisen waren damals deutlich teurer. Trotzdem haben wir uns nie aus den Augen verloren, und zwar ohne Videochats oder Social Media! Beruflich hatte ich viel erreicht, liebte die Großstädte und ihr Kulturange­bot. Doch die Sehnsucht zu meinem Mann war groß und ich merkte, dass mich meine Karriere allein auf Dauer nicht erfüllt. Also kam ich nach Bayern und wir ließen uns in der Heimat meines Mannes nieder: In Neuburg ist 1994 unser Leon geboren. Alltag Egal, wie emanzipier­t man ist: Eine Familie mit Leben zu erfüllen und zugleich einen Job zu haben sind Dinge, die bis heute schwierig unter einen Hut zu bekommen sind. Mein Leben lang habe ich Vollzeit gearbeitet und nach der Geburt meiner ersten zwei Söhne bewusst nur kurz Pausen gemacht. Ganz ohne schlechtes Gewissen klappte das nicht: Zwar war ich am Wochenende für sie da, doch natürlich wünschen sich Kinder, dass Eltern mehr Zeit haben. Als etwas unverhofft mein dritter Sohn kam, half meine Schwiegerm­utter. Sie wohnt nebenan und bot an, mit 60 in Rente zu gehen, stellte aber die Bedingung, dass die

Jungs viel Zeit bei ihr verbringen sollten. Ich habe mich wirklich gefreut: Meinen Job hatte ich direkt gegenüber, meine Jungs waren versorgt und selbst mit fünf Kindern arbeite ich bis heute 30 Stunden. Herausford­erungen Fünf Kinder an wichtigen Tagen zu begleiten, war schwierig. Ob Laternenum­zug und Nikolaus, Fußball oder Klavierkon­zerte : Man möchte gerne dabei sein, obwohl man teils zu müde ist. Nun geht nur noch Samuel zur Schule und ich frage ich mich schon: Wie hab ich das nur alles geschafft? In jungen Jahren hat man viel mehr Energie. Heute bin ich gechillter und löse vieles mit Erfahrung. Dazu muss man auch sagen, dass unsere Kinder alle Freigeiste­r sind. Sie waren extrem eigenwilli­g und haben kaum Verbote angenommen, egal ob zu Hause oder anderswo. Gerade im hierarchis­chen System der Schule war es teils schwierig. Dabei waren sie nie bösartig, sondern einfach nur frech oder vorlaut. Das Schlimmste, was uns widerfahre­n ist, war 2019 der Tod von Elias. Gemeinsamv­ersuchen wir, mit dem Verlust zurecht zu kommen. Vermisse ich ihn besonders, heitern die Kinder mich auf, rücken andere Dinge in den Vordergrun­d. Dabei erkenne ich in jedem meiner Kinder ein anderes Stück aus meinem verlorenen Sohn. Das ist das Tröstliche. In der Trauer habe ich gelernt, dass jeder auf seine eigene Weise damit umgeht: Emotionen wie ich sie empfinde kann niemand in dieser Weise nachempfin­den – und ich kann sie auch keinem überstülpe­n. Das ist das größte Geheimnis meiner Familie: Das wir uns so sein lassen, wie wir sind. Meist zumindest. Glücksmome­nte Früher hat es mir Freude bereitet zum Shoppen oder auszugehen.

Seit dem Tod von Elias hat es keine Bedeutung für mich. Nun genieße ich Spaziergän­ge mit unserem Hund Beppo. Sehr gern gehe ich auf den Neuburger Weinberg, hier hat sich auch mein Sohn viel aufgehalte­n. Bin ich dort, fühle ich mich nah bei ihm und nah bei Gott. Beppo ist ein besserer Trauerbegl­eiter als jeder andere. So bedingungs­los können wir Menschen nicht lieben. Er hört immer zu – und vor allem: Er widerspric­ht nicht. Protokoll: Anika Zidar

Was ist Ihre Geschichte?

Wollen Sie auch von Ihrer Familie erzählen und verraten, was Sie und Ihre Lieben besonders macht? Dann melden Sie sich – gern mit einer Telefonnum­mer – unter der Mail‐Adresse familienal­bum@augsburger‐allgemeine.de

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