Neu-Ulmer Zeitung

Der Mann mit dem Super‐Gedächtnis

- VON STEVE PRZYBILLA

Forschung Erich Walter verirrt sich nie, kann sich jede Straße merken. Er wisse auch, wie er jeden einzelnen Tag seines Lebens verbracht habe, sagt er. Ans Finale der Fußball-WM 1954 hat er besonders lebhafte Erinnerung­en. Der 75-Jährige ist ein medizinisc­hes Phänomen

Viersen Im Vorwort seines Tagebuchs, das Erich Walter seit 1971 führt, zitiert er ein beliebtes Sprichwort: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können.“Für die meisten Menschen dürfte dieser Satz nur ein frommer Wunsch sein. Auf Erich Walter aber trifft er zu: Der 75-jährige Computer-Experte aus Viersen sagt, er könne sich an fast jeden Tag seines Lebens erinnern.

Walter weiß noch genau, wie er 1951 seine Mutter im Schwarzwal­d besucht hat. Wie er frisch gemolkene Kuhmilch trank. Wie französisc­he Soldaten im damals besetzten Baden-Württember­g patrouilli­erten. Seit er fünf Jahre alt ist, kann er alles, was er selbst erlebt hat, auf Knopfdruck abrufen. „Mein Gedächtnis ist wie ein Video“, sagt Walter. Er kann vor- und zurückspul­en, oft ploppen die Szenen einfach so auf, wenn man ihn auf bestimmte Phasen seines Lebens anspricht.

Fußball? Sofort sieht er vor sich, wie er 1954 mit seinem Onkel das WM-Finale im Radio verfolgte, wie alle so aus dem Häuschen waren, dass beim 3:2 ein Nierentisc­h durch die Gegend flog. Beruf? Hier schildert er detaillier­t eine Geschäftsr­eise im Jahr 1991, bei der ein Kollege mit einer „blutjungen Schönheit“ein Hotel betrat. „Ich dachte erst, das sei seine Tochter“, sagt Walter und lacht.

Auch an das Interview für diesen Artikel erinnert er sich einen Monat nach dem Treffen noch ganz genau. Sein erster Satz? „Wenn ich ausschweif­e und zu schwafeln beginne, bremsen Sie mich bitte und stellen die nächste Frage!“

Viele Menschen verfügen über ein gutes Erinnerung­svermögen. Erich Walter aber ist überzeugt davon, dass es bei ihm einen Schritt weitergeht. Dass er automatisc­h alles speichert, was er erlebt. In der Wissenscha­ft gibt es für ein solches Super-Gedächtnis einen Begriff: das hyperthyme­stische Syndrom, abgekürzt HSAM. Die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang.

Bekannt wurde HSAM durch die US-Amerikaner­in Jill Price, die darüber ein Buch geschriebe­n hat („Die Frau, die nichts vergessen kann“). Price hatte sich jahrelang von Hirnforsch­enden der University of California untersuche­n lassen. Diese veröffentl­ichten im Jahr 2006 erstmals ein Papier über den „ungewöhnli­chen Fall autobiogra­fischen Erinnerns“. Sie kamen zu dem Schluss, dass Price tatsächlic­h über eine besondere Gabe verfügt – in vielen Medien wurde die Frau als „medizinisc­hes Wunder“gepriesen.

Die Betroffene selbst kann sich darüber nicht freuen. In ihrem Buch schreibt sie schon auf der ersten Seite von der „Tyrannei“ihrer Fähigkeit. Sie sieht sich als „Gefangene ihres Gedächtnis­ses“, weil sie keine Kontrolle darüber hat, welches Erlebnis in ihrem Kopf auftaucht. Nicht einmal ihre Eltern verstünden, wie es ist, ständig von Erinnerung­en geplagt zu werden – auch von negativen, die bei anderen im Laufe der Jahre verblassen. Die Zeit heilt alle Wunden? Nicht bei dieser Form des Super-Gedächtnis­ses.

Erich Walter, der IT-Fachmann aus Deutschlan­d, hat ebenfalls eine Flut von „Videos“in seinem Kopf. Wenn er erzählt, kommt er ungebremst von einer Anekdote zur nächsten – so viele Erinnerung­en, so viel Material. In einem Nebensatz sagt er plötzlich: „Meine Frau hat sich ja umgebracht.“Danach springt er sofort zum nächsten Thema. Die Sprunghaft­igkeit, die für Außenstehe­nde oft anstrengen­d ist, belastet den 75-Jährigen aber nach eigenen Angaben nicht. „Ich muss nicht ständig an die Vergangenh­eit denken“, erklärt er, „sondern nur, wenn ich darauf angesproch­en werde.“Hier unterschei­det er sich offensicht­lich von der Amerikaner­in Jill Price.

Sein Tagebuch ist für Walter eine Möglichkei­t, seine Gedanken zu ordnen. In einer Word-Datei hat er 2,8 Millionen Wörter auf 6090 Seiten zu Papier gebracht, auch diese Statistik kennt er auswendig. Warum er das macht? „Es gibt Rentner, die gucken sich Fernsehsen­dungen an“, sagt er. Was wohl heißen soll: Ich habe eben dieses Hobby. Weil er viel im Internet surft, stößt er am 24. Juli 2015 auf einen Zeitungsbe­richt, in dem das hyperthyme­stische Syndrom beschriebe­n wird. „Da dachte ich: Das bin ich“, sagt Walter. Fortan gibt er selbst Interviews zu dem Thema, um andere über HSAM zu informiere­n.

So gut er seine Erinnerung­en unter Kontrolle hat – an anderer Stelle bereitet ihm sein besonderes Gehirn aber doch Probleme: Der Rentner leidet an einer bipolaren Störung, war wegen Depression­en mehrfach in stationäre­r Behandlung. „In manischen Phasen explodiert mein Gehirn“, beschreibt er seinen Zustand. Auch Jill Price – die Frau, die nie vergisst – litt lange an Depression­en. Ob beides zusammenhä­ngt? Unklar. Die Wissenscha­ft hat bislang nur eine Vermutung: Wenn das Gehirn nichts aussortier­t, fällt eine wichtige Schutzfunk­tion weg. Erinnerung­en werden zur Belastung.

An der Universitä­t Basel beschäftig­t sich Andreas Papassotir­opoulos mit dem Phänomen. Der Professor für Molekulare Neurowisse­nschaften möchte herausfind­en, ob es eine genetische Ursache dafür gibt. Dazu untersucht er DNA-Proben von Betroffene­n, die er aus den USA erhalten hat. Noch ist ihm der Durchbruch nicht gelungen, aber wenn doch, könnten sich damit vielleicht auch andere Fragen klären: Warum vergessen wir? Und warum merken wir uns Dinge?

Vor einigen Jahren hat der Professor einen Aufruf im deutschspr­achigen Raum gestartet, um Betroffene zu finden. Von tausenden Zuschrifte­n, die eingegange­n seien, habe am Ende niemand tatsächlic­h HSAM gehabt, sagt der Forscher. Er hat sich dafür an einem Test orientiert, den Wissenscha­ftler der University of California entwickelt haben. Darin müssen die Probanden und Probandinn­en detaillier­t beschreibe­n, was ihnen vor einem Monat, einem halben Jahr und einem Jahr passiert ist. Zudem gibt es Fragen mit mehreren Antwortmög­lichkeiten: An was erinnern Sie sich besonders gut? An die Kleidung, die Sie an einem bestimmten Tag getragen haben, das Wetter oder das Essen? Wer glaubt, HSAM zu haben, kann den Test auch direkt online ausfüllen.

Die Wissenscha­ft geht aktuell davon aus, dass weltweit lediglich 60 Personen ein solches Super-Gedächtnis besitzen. Genau weiß es aber niemand. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob diejenigen, die es behaupten, wirklich betroffen sind. Erich Walter aus Viersen hat von ärztlicher Seite noch keine entspreche­nde Diagnose. Er selbst zweifelt an so manchen Schilderun­gen, die andere HSAM-Personen von sich geben. „Eine Frau hat angeblich schon gesehen, wie sie aus dem Mutterleib gekommen ist“, sagt Walter. „Das ist doch Blödsinn.“

Also eine Probe aufs Exempel: Was ist am 3. März 1972 in der Welt passiert? Walter winkt ab: Statt genaue Daten im Kopf zu haben, könne er sich nur an selbst Erlebtes erinnern, und auch dies nicht immer mit genauem Datum. Auch die Mail mit der Interview-Anfrage für diesen Artikel kann er nicht wörtlich zitieren. Müsste das aber nicht automatisc­h so sein bei jemandem, der sich alles merkt?

Neurowisse­nschaftler Papassotir­opoulos glaubt, dass das eine das andere nicht ausschließ­t. „Das Zitieren einer E-Mail, die man kürzlich erhalten hat, fällt unter die Kategorie des episodisch­en Gedächtnis­ses“, erklärt der Professor. Dort zeigten auch HSAM-Individuen nur durchschni­ttliche Leistungen. „Es ist das selbst Erlebte, autobiogra­fische Gedächtnis, was enorm stark ausgeprägt ist.“Genauso beschreibt es Erich Walter auch. Er sieht sich nicht als Übermensch, hat keine Casinos mit seinem grandiosen Erinnerung­svermögen abgezockt oder Serienmörd­er hinter Gitter gebracht. Stattdesse­n arbeitete er jahrelang als

Beim Siegtor flog ein Nierentisc­h durch die Luft

Die Kegelbrüde­r wetten nicht mehr mit ihm

„Chief Informatio­n Officer“, also als Chef der Computer-Abteilung, bei der Supermarkt­kette Kaiser’s Tengelmann.

Im zwischenme­nschlichen Bereich ist ein Super-Gedächtnis längst nicht immer nützlich. „Im täglichen Leben gehe ich damit nicht hausieren“, sagt Walter. Aber wenn jemand offensicht­lich etwas Falsches erzähle, müsse er widersprec­hen. So wie kürzlich beim Kegeln. Ein Kegelbrude­r behauptete, im Winter 1963 gegen Günter Netzer Fußball gespielt zu haben. Sofort lief das Video in Erich Walters Kopf ab: Der harte Winter 1963. Der Kachelofen im Wohnzimmer. Eisblumen am Fenster. „Sogar der Rhein war damals zugefroren“, sagt Walter. Also: kein Fußballtur­nier.

Manche nehmen ihm seine peniblen Schilderun­gen übel. „Meine Kegelbrüde­r wetten nicht mehr mit mir“, erzählt Walter. „Sie sagen dann: ,Der weiß eh schon alles.‘“In solchen Fällen denkt er lieber an die nützlichen Dinge, die ihm seine Fähigkeit bietet, zum Beispiel bei der Orientieru­ng: Erich Walter verirrt sich fast nie. Schließlic­h erinnert er sich an jede Straße, in der er schon einmal war.

 ?? Symbolfoto: Imago Images/Imaginechi­na‐Tuchon ?? Viele Menschen verfügen über ein gutes Erinnerung­svermögen. Erich Walter aber ist überzeugt davon, dass es bei ihm einen Schritt weitergeht – dass sein Gehirn automatisc­h alles speichert, was er erlebt. In der Wissenscha­ft gibt es für ein solches Super‐ Gedächtnis einen Begriff: das hyperthyme­stische Syndrom, abgekürzt HSAM.
Symbolfoto: Imago Images/Imaginechi­na‐Tuchon Viele Menschen verfügen über ein gutes Erinnerung­svermögen. Erich Walter aber ist überzeugt davon, dass es bei ihm einen Schritt weitergeht – dass sein Gehirn automatisc­h alles speichert, was er erlebt. In der Wissenscha­ft gibt es für ein solches Super‐ Gedächtnis einen Begriff: das hyperthyme­stische Syndrom, abgekürzt HSAM.
 ?? Foto: Steve Przybilla ?? Erich Walter aus Viersen am Niederrhei­n denkt in Videos, wie er selbst seine Fähig‐ keit beschreibt.
Foto: Steve Przybilla Erich Walter aus Viersen am Niederrhei­n denkt in Videos, wie er selbst seine Fähig‐ keit beschreibt.

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