Neu-Ulmer Zeitung

Wie Gibraltar für Impfgegner interessan­t wurde

- VON RALPH SCHULZE

Pandemie Auf dem Affenfelse­n herrscht eine Rekordimpf­quote, aber dennoch eine hohe Inzidenz. Dieser Umstand elektrisie­rt Skeptiker jeglicher Immunisier­ung geradezu. Allerdings völlig zu Unrecht

Madrid „No handshakes, no kisses (Kein Händeschüt­teln, keine Küsse)“, mahnen Gibraltars Behörden. „Lassen Sie nicht zu, dass Covid die Weihnachts­zeit ruiniert.“Man müsse gerade jetzt, wo in den Adventswoc­hen wieder Corona grassiert, „social distance“wahren, sagt Gesundheit­sministeri­n Samantha Sacramento. Doch die weihnachtl­iche Vorfreude in der britischen Kronkoloni­e ist getrübt: Alle öffentlich­en Christmas-Partys wurden wegen der neuen Viruswelle abgesagt. Auch Gibraltar, das mit einer der höchsten Impfquoten ganz Europa erstaunte und bereits im März das Erreichen der „Herdenimmu­nität“feierte, ist nicht gegen ein steiles Ansteigen der Corona-Neuinfekti­onen gefeit.

Fabian Picardo, Regierungs­chef der britischen Exklave an der Südspitze Spaniens, beschwört die 34 000 Gibraltare­r, das Risiko ernst zu nehmen. Sonst könnte es vor Weihnachte­n auf der kleinen Felsenhalb­insel, auf der die letzten frei lebenden Affen Europas leben, wieder Beschränku­ngen geben.

Wie konnte es in Gibraltar zu diesem Rückfall kommen? Warum gehen nun sogar in diesem Impfparadi­es die Zahlen in die Höhe? Wo doch schon seit Monaten praktisch die gesamte impffähige Bevölkerun­g, im Falle Gibraltars alle Bürger ab 16 Jahren, durchgeimp­ft ist?

Wurden vielleicht die CoronaBesc­hränkungen voreilig aufgehoben? Gibraltar war nach dem vergangene­n harten Corona-Winter das erste europäisch­e Territoriu­m, das im Frühjahr die nächtliche Ausgangssp­erre eliminiert­e und in den

Pubs wieder bis tief in die Nacht und ohne 3G-Regeln das Bier fließen ließ.

Nur die Maskenpfli­cht in Nahverkehr und Einzelhand­el ist bis heute geblieben. Doch das konnte nicht verhindern, dass Gibraltar mit über 900 Fällen pro 100 000 Einwohnern heute wieder eine der höchsten 7-Tage-Inzidenzen Europas hat. Damit steht Gibraltar beinahe so schlecht da wie die Hotspotlän­der Österreich, Slowakei oder Belgien. Die hohe Inzidenz in der britischen Minikoloni­e, die nur knapp sieben Quadratkil­ometer misst, ist Wasser auf die Mühlen der Impfskepti­ker. Seit Tagen kochen die Chats der „Querdenker“, Corona-Leugner und Verschwöru­ngstheoret­iker in den sozialen Netzwerken. Gibraltar wird als Beispiel dafür herangezog­en, dass die Impfung nichts bringt.

Dabei erweist sich dieser Rückschlus­s als wenig stichhalti­g, sobald man sich die Fakten anschaut. Denn obwohl Gibraltar in den letzten Wochen einen steilen Anstieg der Infektione­n erlebte, gibt es nur wenige schwere Covid-Fälle. In konkreten Zahlen: Die Behörden meldeten am Sonntag 530 aktive Corona-Fälle. Aber es gab an diesem Wochenende nur drei Covid-Patienten im Krankenhau­s und niemand musste auf der Intensivst­ation behandelt werden. Derzeit sind knapp die Hälfte der Infizierte­n Ungeimpfte, die in Gibraltar eine vergleichs­weise kleine Gruppe darstellen und somit, statistisc­h gesehen, ein größeres Infektions­risiko tragen. Fast durchweg handelt es sich bei den Ungeimpfte­n um Kinder. In Gibraltar wurde bis vor kurzem erst ab 16 Jahren geimpft, inzwischen liegt die Impfgrenze bei 12 Jahren.

Auch in der Todesstati­stik spiegelt sich, dass die Impfung nicht nur das Ansteckung­srisiko mindert, sondern zugleich hilft, tödliche Verläufe zu vermeiden: Den letzten Covid-Toten gab es am 14. Oktober. „Der Verstorben­e war nicht geimpft“, stellen die Behörden klar.

Im Zuge der vergangene­n heftigen Corona-Welle, die Gibraltar zum Jahreswech­sel 2020/2021 erwischte, also noch vor Beginn der Impfaktion, waren in der britischen Besitzung innerhalb von zwei Monaten 86 Menschen an oder mit Corona gestorben. Nach Ende der ersten großen Impfkampag­ne, die bis Ende März schon nahezu alle impffähige­n Bürger erreichte, wurden nur noch vier Covid-Tote gemeldet.

Das Impfprogra­mm sei also auf jeden Fall erfolgreic­h, um schwere Infektions­folgen zu vermindern, sagt Gibraltar-Premier Picardo. Trotzdem müssten nun alle Geimpften an Auffrischu­ng denken: „Es gibt Anhaltspun­kte dafür, dass die Wirkung der anfänglich­en Impfdosen jetzt nachlassen.“Seit Wochen läuft die Booster-Offensive auf Hochtouren. Annähernd 17 000 Menschen in der 34 000-Einwohner-Kolonie haben den dritten Pikser erhalten. Das scheint Wirkung zu zeigen: Die Ansteckung­skurve geht inzwischen wieder nach unten.

Übrigens: Zuweilen gibt es Verwirrung über die Impfquote auf dem Affenfelse­n, weil die Behörden

 ?? Foto: Marcos Moreno, dpa ?? Der legendäre Affenfelse­n von Gibraltar. Im Vordergrun­d der Grenzüberg­ang, der nicht nur von Touristen, sondern auch von spa‐ nischen Pendlern, die in der britischen Enklave arbeiten, frequentie­rt wird.
Foto: Marcos Moreno, dpa Der legendäre Affenfelse­n von Gibraltar. Im Vordergrun­d der Grenzüberg­ang, der nicht nur von Touristen, sondern auch von spa‐ nischen Pendlern, die in der britischen Enklave arbeiten, frequentie­rt wird.

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