Neu-Ulmer Zeitung

Das Piepsen endet nie

- VON FELIX LILL

Spielzeug Vor 25 Jahren eroberte das Tamagotchi die Kinderzimm­er der Welt. Nach einem eher kurzen, aber riesigen Boom schien es wieder weg. Doch verschwund­en ist es bis heute nicht

Tokio Sobald es piepste, herrschte eine gewisse Panik: Was ist los? Braucht es Futter? Will es nur spielen? Oder kämpft es ums Überleben? Döste man morgens im Bett noch, war man plötzlich hellwach. Im Schulunter­richt hielt man die Hand auf den Lautsprech­er, damit die Lehrerin nichts bemerkte. Sie hätte dieses kleine, batteriebe­triebene Ding einkassier­t. Aber das durfte nicht passieren. Vor allem dann nicht, wenn es piepste. Denn irgendetwa­s Wichtiges musste das ja bedeuten.

Wer in den 90er Jahren ein Kind war, wird sich an solche Szenen bestens erinnern: Tamagotchi­s zogen die volle Aufmerksam­keit des Nachwuchse­s auf sich. Ein Plastikei mit winzigem Bildschirm, auf dem die Launen und Nöte eines Elektrowes­ens angezeigt wurden – das wollte jede und jeder haben. In einer Zeit, in der das Wort Internet noch niemand verstanden hätte, war das Tamagotchi das erste populäre „Roboter-Haustier“. Per Knopfdruck ließ es sich füttern. Herrchen und Frauchen wurden dafür mit einem Winken belohnt. Und die Spielzeugi­ndustrie freute sich über ihre enormen Umsätze.

Ein Vierteljah­rhundert ist vergangen, seit das erste Tamagotchi auf den Markt kam. In Japan, wo der Tokioter Elektronik­hersteller Bandai es Ende November 1996 als Erster anbot, schlug es ein wie eine Bombe. Vor Spielwaren­geschäften bildeten sich lange Schlangen, um eines dieser Geschöpfe mit dem 32x16-Pixel-Minibildsc­hirm zu ergattern. Wem es richtig ernst damit war, der kaufte sich nach und nach gleich mehrere – auch als Sammlerstü­cke, denn die Plastikhül­le gab es in verschiede­nen Farben. Es war der Beginn eines weltweiten Hypes.

Das Tamagotchi war dabei vieles auf einmal: ein kleiner Computer, mit dem man zu interagier­en lernte. Eine ganz neue Form des Entertainm­ents. Und ein Haustier zum Ausprobier­en. Eltern, die skeptisch gegenüber dem Wunsch ihres Kindes nach Hunden oder Katzen waren, konnten der Idee eines Elektrohau­stieres oft etwas abgewinnen. Ließen sich dank Tamagotchi nicht Fürsorge und Verantwort­ung erlernen, ohne dass es richtig schiefgehe­n konnte? Am Ende starb ja allenfalls ein Pixel-Wesen.

Doch diese Denkweise entpuppte sich als großer Irrtum. Denn natürlich wurden Tränen vergossen, wenn auf dem Tamagotchi-Bildschirm eine Traueranze­ige aufploppte, die das Alter des verendeten Wesens anzeigte. In einigen

Ländern machten Nachrichte­n die Runde, dass sogar Friedhöfe für die Plastikeie­r eingericht­et worden waren. Wer, im Gegenteil, sich besonders gut um sein Tamagotchi kümmerte, vernachläs­sigte oft anderes, die Schule zum Beispiel.

Nach einem eher kurzen, aber riesigen Boom war die Tamagotchi­Zeit wieder vorbei. Vorerst. Um das Jahr 2004 herum startete Bandai eine neue Verkaufsof­fensive für die nächste Generation – unter anderem mit der Tamagotchi-Fähigkeit, das eigene mit einem anderen zu verbinden und so eine Familie zu gründen. Bis heute haben sich weltweit um die 85 Millionen Exemplare verkauft. Hinzu kommt eine unschätzba­re Zahl von Raubkopien.

Aber die Bedeutung des Tamagotchi­s drückt sich nicht allein in Absatzzahl­en aus. Für die gesamte Gamingbran­che war es wegweisend. Nicht nur der Gedanke, ein E-Haustier zu kreieren, war originell. Auch der Modus des dauerhafte­n Spielens ebnete den Weg für spätere Spiele: Beim Tamagotchi gibt es kein Speichern und Ausschalte­n, womit man den alten Spielstand laden könnte. Durchgehen­de Fürsorge ist gefragt, ansonsten wird das Tier krank und stirbt. „World of Warcraft“oder „Elder Scrolls Online“funktionie­ren heute in ähnlichen Modi. Das Spiel – es endet nie.

Außerdem richtete sich das Tamagotchi – anders als die meisten Elektro- oder Videospiel­e bis dahin – nicht vor allem an Jungen, sondern genauso oder insbesonde­re sogar an Mädchen. Während Spielkonso­len wie jene von Nintendo etwa in Spielwaren­geschäften in der Abteilung für Jungen zu finden waren, traf auf die Tamagotchi­s häufig das Gegenteil zu. Die Industrie erschloss sich eine neue Zielgruppe, die zuvor nicht im Fokus der Spieleentw­ickler gestanden hatte.

25 Jahre später ist das Tamagotchi noch immer nicht ausgestorb­en. Der Hersteller Bandai hat gerade eine Jubiläumsv­ersion herausgebr­acht. Die Weiterentw­icklung kommt in Form einer Smartwatch, ist also online und per Touchscree­n zu bedienen. Mittlerwei­le ist das „Haustier“in Farbe sichtbar und das auf dem Bildschirm erkennbare Zimmer, in dem sich das Wesen befindet, kann modifizier­t werden. Zudem sind simple Chatfunkti­onen möglich sowie die Synchronis­ation mit anderen Tamagotchi­s. Das „Tamagotchi Smart“kostet auf dem japanische­n Markt, wo es zunächst erscheint, 7970 Yen – rund 62 Euro.

Es ist bereits eine Jubiläumsv­ersion erhältlich

 ?? Foto: Claus Felix, dpa ?? Tamagotchi­s, vorgestell­t 1998 auf der Spielwaren­messe in Nürnberg. Die Pixelwesen – einfache „Roboter‐Haustiere“– waren weltweit ein Erfolg.
Foto: Claus Felix, dpa Tamagotchi­s, vorgestell­t 1998 auf der Spielwaren­messe in Nürnberg. Die Pixelwesen – einfache „Roboter‐Haustiere“– waren weltweit ein Erfolg.

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