Er erfand das amerikanische Musical neu
Nachruf Broadway-Legende Stephen Sondheim ist mit 91 Jahren gestorben. Er komponierte Musik, die im Innersten berührt
New York Geht es bei Musik vor allem um Unterhaltung? Oder ist da mehr, ein tieferer Sinn, ein psychologisches Regulativ, ähnlich einem Thermostat, der die verschiedenen Lebensbereiche ausgleicht, der das innere Licht wahlweise hochzieht oder dimmt? Hätten Sie doch Stephen Sondheim gefragt! Ja hätte er gesagt, aus vollem Herzen!
Denn Sondheim war kein Komponist im traditionellen Sinn. Er machte sich Gedanken über Musik, über ihre Wirkung, über Texte und Handlungen, wusste, dass sie uns von Geburt an prägt, im tiefsten Inneren berührt und uns zu Höchstleistungen pushen, aber auch unseren Intellekt und unser kollektives Bewusstsein befeuern kann. Dass das am 22. März 1930 in New York geborene Multitalent ausgerechnet den Weg des populären Genres „Musical“für seine Revolution suchte, war ein genialer Schachzug. Denn Musicals galten und gelten immer noch als Publikumsmagneten. Die Handlung spielt zwar eine
Rolle, aber keine übergeordnete. Wer Musicals besucht, der will gemeinhin nicht mit Problemen belästigt werden. Das Rezept erfolgreicher Musicals funktioniert nach demselben Schema wie das erfolgreicher Kino-Blockbuster: die Gegenüberstellung von Gut und Böse, eine fulminante Story, viel Musik, eventuell garniert mit Tanz und einem garantierten Happy End.
All das wollte Stephen Sondheim zeitlebens auf eine andere Ebene transformieren, weil das Publikum in sich verändernden, turbulenten Zeiten, in denen pausenlos Konventionen infrage gestellt werden, immer mehr existenzielle Fragen stellt. Vielleicht kam ihm dabei auch seine Leidenschaft für Kreuzworträtsel zugute. Angeblich soll er das anspruchsvollste der New York Times in einer halben Stunde gelöst haben. Die Parallele zur Kunst lag für ihn auf der Hand: In beiden Fällen erfordere es eine gewisse Anstrengung, Ordnung ins Chaos zu bringen, sagte Sondheim. Also reimte Sondheim, ersann vertrackte Versformen, quälte sich mit passgenauen Alliterationen und achtete stets auf die wenigstens mittelbare Verbindung zwischen Klang und Text.
Dass Stephen Sondheim Sprache und Musik als Einheit begriff, lag an einer ganz besonderen Konstellation. Als Sohn jüdisch-mittelständischer Eltern, beide in der Textilbranche tätig, wuchs er zwar in luxuriösen Verhältnissen auf, doch Wärme und Herzlichkeit erfuhr er nie. Die Eltern trennten sich, der Junge landete im Internat und zog dann mit der Mutter ins ländliche Pennsylvania, in die unmittelbare Nachbarschaft von Oscar Hammerstein, damals schon als MusicalTexter eine lebende Broadway-Legende. Oscar wurde so etwas wie sein Ersatzvater und Hammersteins Sohn Jimmy sein bester Kumpel. Kompositionsunterricht nahm Stephen derweil bei Milton Babbit, der als Pionier der seriellen und elektronischen Musik in den USA gilt, aber Verständnis dafür zeigte, dass sein Schüler lieber Musicals komponieren wollte als Zwölftonmusik.
Zu seinem Karrierestart bedurfte es freilich großer Überredungskunst seines Mentors Hammerstein. Ursprünglich hatte Stephen Sondheim nämlich überhaupt keine Lust, Songtexte für eine Musicalversion von „Romeo und Julia“zu schreiben. Dass später daraus die „West Side Story“wurde, entpuppte sich als Glücksfall, ebenso wie die anderen Stoffe, die er im Laufe seiner 65-jährigen Karriere bearbeitete. Er schrieb witzige, einprägsame Texte, schüttelte jede Menge süffiger Melodien aus dem Ärmel, ohne dabei der Banalität von Ohrwürmern anheimzufallen. Alle Werke Sondheims besitzen eine Tiefe, mit der er komplexe psychologische Sachverhalte einprägsam vermitteln konnte. Mit „Follies“(1971) zeichnete er mithilfe eines verlotterten Vaudeville-Theaters das Ende einer amerikanischen Epoche. In der Ingmar
Bergman-Adaption „A Little Light Music“(1973), in der Sondheim mit „Send In The Clowns“seinen einzigen Hit versteckte, nahm er die Dynamik von Beziehungen unter die Lupe. Mit dem Off-Broadway-Regisseur James Lapine kreierte er „Sunday in the Park with George“und gewann 1984 den Pulitzerpreis, außerdem heimste er noch einen Oscar (für den Soundtrack zu „Dick Tracy“; 1990), acht Tony Awards und ebenso viele Grammys ein.
Stephen Sondheim trank Unmengen Whiskey und rauchte Kette, bis ein Herzinfarkt 1979 die gesundheitliche Kehrtwende einläutete. Auch seine Homosexualität und seine damit verbundenen unterdrückten Gefühle machten ihm lange zu schaffen. Noch am vergangenen Donnerstag feierte er mit Freunden Thanksgiving. Tags darauf ist er mit 91 Jahren überraschend gestorben. Bis heute hallen die Worte Barack Obamas nach, die der ehemalige Präsident bei der Verleihung der Freiheitsmedaille 2015 an Sondheim richtete: „Stephen hat das amerikanische Musical neu erfunden.“