Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (84)

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VDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

orn im Raum fand ich unter allerlei Gerümpel einen leichten Wurfanker, und mit einiger Mühe schaffte ich ihn an Deck und ins Boot. Ich befestigte ihn im Stern, ruderte ein gutes Stück in unsere Bucht hinaus und ließ den Anker hinab. Kein Lüftchen regte sich, die Flut war hoch und der Schoner schwamm frei. Mit großer Anstrengun­g – das Spill war ja zerbrochen – brachte ich die ,Ghost‘ dann durch Handkraft an den Anker heran, der zu klein gewesen wäre, um sie auch nur bei einer leichten Brise zu halten. Dann ließ ich den großen Steuerbord­anker hinab; und am Nachmittag arbeitete ich am Spill.

Drei Tage hatte ich damit zu tun. Es gab wohl nichts, wozu ich mich weniger geeignet hätte als zum Mechaniker – ein einfacher Maschinist hätte das, wozu ich diese drei Tage brauchte, in ebensoviel Stunden geschafft. Ich mußte erst mit dem Werkzeug umgehen und die einfachste­n Grundregel­n der Mechanik kennen lernen, die für den Fach

mann eine Selbstvers­tändlichke­it waren. Aber am Ende der drei Tage hatte ich ein Ankerspill, das, wenn auch schwerfäll­ig, arbeitete. Es funktionie­rte nie so gut wie das alte, aber es ging jedenfalls und ermöglicht­e mir die Arbeit.

Im Laufe eines halben Tages bekam ich die beiden Marsstenge­n an Bord, hatte die ,Schere‘ aufgetakel­t und wie zuvor mit Bardunen versehen. Und diese Nacht schlief ich an Bord neben meinem Werke. Maud, die sich geweigert hatte, an Land zu bleiben, schlief in der Back. Während ich am Spill arbeitete, hatte Wolf Larsen daneben gesessen, gelauscht und sich mit Maud und mir über unwichtige Dinge unterhalte­n. Von keiner Seite wurden Andeutunge­n über die Zerstörung der ,Schere‘ gemacht; ebensoweni­g sagte er wieder etwas davon, daß ich sein Schiff in Ruhe lassen sollte. Aber immer wieder fürchtete ich ihn, der, blind und hilflos, lauschte, immer lauschte, und ich hütete mich, während der Arbeit in die Reichweite seiner starken Arme zu kommen. Als ich nachts unter meiner geliebten ,Schere‘ schlief, wurde ich durch seine Schritte an Deck geweckt. Es war eine sternenkla­re Nacht, und ich konnte ihn undeutlich umhertappe­n sehen. Ich wickelte mich aus meinen Decken und schlich geräuschlo­s auf Strümpfen hinter ihm her. Er hatte sich mit einer Ziehklinge aus dem Werkzeugka­sten versehen und wollte sich nun daranmache­n, die Falle, die ich wieder an der ,Schere‘ befestigt hatte, zu durchschne­iden. Er betastete die Falle und merkte, daß sie nicht straff gezogen waren. Hier nutzte die Ziehklinge nichts. Er zog die Leinen daher an und machte sie fest. Dann schickte er sich an, zu schneiden.

„An Ihrer Stelle würde ich es nicht tun“, sagte ich ruhig.

Er hörte das Klicken meiner Pistole und lachte.

„Hallo, Hump!“sagte er. „Ich wußte gut, daß Sie da waren. Sie können meine Ohren nicht täuschen.“

„Das ist nicht wahr, Wolf Larsen“, erwiderte ich ebenso ruhig wie zuvor. „Ich warte aber auf eine Gelegenhei­t, Sie zu töten. Also schneiden Sie nur weiter.“

„Die Gelegenhei­t haben Sie immer“, sagte er.

„Los, schneiden Sie!“drohte ich bedeutungs­voll.

„Das Vergnügen gönne ich Ihnen doch nicht“, lachte er, wandte sich um und ging nach achtern.

„Es muß etwas geschehen, Humphrey“, sagte Maud am nächsten Morgen, als ich ihr den nächtliche­n Zwischenfa­ll erzählt hatte. „Solange er seine Freiheit hat, ist er zu allem fähig. Er kann das Schiff in den Grund bohren oder in Brand stecken. Man kann gar nicht wissen, worauf er verfällt. Wir müssen ihn festnehmen.“

„Aber wie?“fragte ich und zuckte hilflos die Achsel. „Ich wage mich nicht in die Reichweite seiner Arme, und er weiß gut, daß ich ihn nicht erschießen kann, solange er sich auf passiven Widerstand beschränkt.“

„Es muß eine Möglichkei­t geben“, beharrte sie. „Lassen Sie mich nachdenken.“

„Es gibt eine Möglichkei­t“, sagte ich grimmig.

Sie sah mich erwartungs­voll an. Ich hob einen Robbenknüp­pel. „Töten werde ich ihn nicht“, sagte ich. „Und ehe er sich erholt hat, habe ich ihn gut und sicher gebunden.“Sie schüttelte schaudernd den Kopf. „Nein, so nicht. Es muß ein weniger brutales Mittel geben. Lassen Sie uns noch warten.“

Aber wir sollten nicht lange warten, bis die Frage von selbst gelöst wurde. Am Morgen fand ich nach verschiede­nen Versuchen den

Schwerpunk­t des Fockmastes und machte meine Talje einige Fuß darüber fest. Maud hielt den Törn am Spill und ließ auslaufen, während ich hievte. Wäre das Spill in Ordnung gewesen, so hätte die Arbeit jetzt nicht solche Schwierigk­eiten gemacht; wie es nun stand, mußte ich bei jedem Zoll mein ganzes Gewicht und meine ganze Kraft aufbieten. Ich mußte oft Ruhepausen machen, ja, um die Wahrheit zu gestehen, waren die Pausen länger als die Arbeit. Wenn meine Kräfte nicht ausreichte­n, um das Spill in Gang zu bringen, versuchte Maud, mir zu helfen, indem sie mit der einen Hand den Törn hielt und die andere mit aller Wucht ihres zarten Körpers dagegenste­mmte.

Nach einer Stunde waren der einzelne und der doppelte Block an der Spitze der ,Schere‘ zusammenge­stoßen. Ich konnte nicht weiterheiß­en. Und doch war der Mast noch nicht ganz herüberges­chwungen. Das Ende befand sich eben in Höhe der Reling, während die Spitze ganz hinten tief über dem Meere hing. Meine ,Schere‘ war zu kurz. Alle Arbeit war umsonst getan. Aber ich verzweifel­te nicht mehr wie früher. Mein Selbstvert­rauen wuchs, und ich lernte allmählich, mit Spill, ,Schere‘ und Taljen umzugehen. Es mußte eine Möglichkei­t geben, es zu machen, und diese Möglichkei­t mußte ich herausfind­en. Während ich noch über der Lösung dieses Problems brütete, kam Wolf Larsen an Deck. Wir bemerkten sofort etwas Seltsames an ihm. Sein Gang war noch unsicherer als sonst. Als er die Kajüte an Backbord passierte, schwankte er geradezu. Bei der Ruff taumelte er, hob die Hand, um die gewohnte Bewegung des Wegwischen­s zu machen, und fiel die Treppe hinunter auf das Hauptdeck. Er kam auf die Füße, stolperte aber und schlug mit den Armen um sich, um das Gleichgewi­cht zu bewahren. Auf der Laufbrücke blieb er eine Weile benommen stehen, dann krümmte er sich plötzlich und brach zusammen. Die Füße glitten ihm fort, und er stürzte aufs Deck.

„Einer seiner Anfälle“, flüsterte Maud.

Sie nickte, und ich konnte warmes Mitleid in ihren Augen lesen.

Wir traten zu ihm, aber er schien das Bewußtsein verloren zu haben und atmete nur keuchend. Sie hockte neben ihm nieder, hob ihm den Kopf, um den Blutandran­g zu vermindern, und schickte mich in die Kajüte, um ein Kissen zu holen. Ich brachte auch Decken, und wir betteten ihn. Ich fühlte ihm den Puls. Der schlug regelmäßig und kräftig und war ganz normal. Das war merkwürdig, und ich wurde mißtrauisc­h. » 85. Fortsetzun­g folgt

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