Neu-Ulmer Zeitung

Mama kommt nicht mehr

- VON MARIA HEINRICH

Abschied Stirbt ein Familienmi­tglied, ist das schon für Erwachsene schwer zu verkraften. Für Kinder bricht eine Welt zusammen, wenn sie Mutter oder Vater verlieren. Spezielle Trauergrup­pen können dann helfen – so wie bei Lisa und ihrer Oma

Neu‐Ulm Als Lisa vier Jahre alt ist, endet das Leben, wie sie es kennt, von einer Sekunde zur anderen. Ihr geschieht mit das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Eines Nachts stirbt Lisas Mutter im Schlaf, während ihre Tochter neben ihr liegt. Das Mädchen versucht seine Mama aufzurütte­ln, doch die junge Frau reagiert nicht, wacht nicht mehr auf. Weil die Mutter alleinerzi­ehend ist, wird Lisa noch in der Nacht zu einer Pflegefami­lie gebracht, die Polizei verständig­t die Großmutter. Sie entschließ­t sich kurze Zeit später, ihre Enkelin aufzunehme­n und großzuzieh­en. Beide trauern sehr, besuchen jeden Tag den Friedhof, weinen viel. Die eine um die Mutter, die andere um die Tochter.

Lisas Schicksal ist eines, das sie mit Hunderttau­senden Mädchen und Jungen in Deutschlan­d teilt. Schätzunge­n zufolge gibt es derzeit etwa 800.000 Minderjähr­ige, die mit dem Verlust eines Elternteil­s oder sogar dem Tod von Mutter und Vater leben müssen. Viele von ihnen kämpfen jahrelang mit dieser Erfahrung. Der Tod erschütter­t ihr Weltbild und bringt alles, woran sie geglaubt haben, zum Einstürzen.

Fast acht Jahre ist es nun her, dass die heute zwölfjähri­ge Lisa ihre Mutter verloren hat. Weil sie damals, im März 2014, noch so klein ist, fällt es ihr besonders schwer zu verstehen, was der Tod eigentlich bedeutet. So erzählt es ihre Oma heute. Sie möchte an dieser Stelle gern anonym bleiben – und auch ihre Enkelin heißt in Wirklichke­it anders. „Ich dachte, dass sie es nach einiger Zeit ein bisschen aufgenomme­n hatte“, sagt sie. „Aber es hat mich wirklich stutzig gemacht, als sie irgendwann fragte: Wann kommt die Mama jetzt endlich wieder?“Die Großmutter bemüht sich, ihrer Enkelin möglichst kindgerech­t die Wahrheit zu sagen: „Die Mama kommt nicht mehr. Nie mehr.“

Was es bedeutet, die richtigen Worte zu wählen, um mit Kindern über das Sterben zu sprechen, ihnen gar zu erklären, was der Tod überhaupt bedeutet, weiß auch Angelika Bayer, Sozialpäda­gogin und Leiterin von Lacrima, dem Zentrum für trauernde Kinder der Johanniter in

Neu-Ulm. Sie erzählt von einem Beispiel, dass sie selbst oft benutzt: „Man stellt sich einen Handschuh vor, der sozusagen der Körper ist. Wenn der Mensch stirbt, dann geht die Seele – das ist die Hand – heraus und der Körper bleibt zurück. Ohne die Hand kann sich der Handschuh nicht mehr bewegen, nicht mehr leben. Das kann für die Kinder eine tröstliche Vorstellun­g sein.“

Als Lisa versteht, dass ihre Mama nie wieder zu ihr zurückkomm­t, fällt das Mädchen in ein tiefes Loch. Es dauert seine Zeit, bis es die heftigsten Wellen der Trauer hinter sich hat. Großmutter und Enkelin hilft es jedoch, dass der Alltag sie ablenkt. Dass immer etwas Neues passiert, im Kindergart­en, später in der Schule. Doch Lisa wird auffällig. In der vierten Klasse sucht eine Lehrerin das Gespräch mit der Großmutter. Lisa weine sehr viel im Unterricht. Darauf angesproch­en, sagt das Mädchen nur: „Ach Oma, ich weiß doch selber nicht warum. Es kommt einfach.“

Wenn ein Elternteil, die Oma, der Opa, eine Schwester oder ein Bruder, stirbt, dann löst das in den Kindern die unterschie­dlichsten Gefühle und Reaktionen aus. So beschreibt es Angelika Bayer, die seit der Lacrima-Gründung 2018 in Neu-Ulm schon viele trauernde Kinder begleitet hat. „Die einen empfinden ein Gefühl der Ohnmacht und sind so verunsiche­rt, dass sie sich nichts mehr zutrauen.“Andere leiden unter großen Ängsten, auch noch den anderen Elternteil zu verlieren. Stirbt der Angehörige nach einer langen Krankheit, dann verschwind­et bei manchen Kindern jedes Gefühl für Sicherheit. „Der Glaube ans Leben und daran, dass alles gut wird und Mama und Papa sie vor allem Leid beschützen, ist dann einfach futsch“, sagt Bayer.

Viele Mädchen und Jungen seien nach einem Todesfall auch unheimlich wütend und aggressiv, weil sie sich immer wieder dieselben Fragen stellen: Warum ausgerechn­et ich? Warum mein Papa? Zumal sich mit dem Tod eines Elternteil­s auch die Lebensumst­ände radikal ändern können. Bayer erzählt von einer Familie, bei der die Mutter kurz nach der Geburt des dritten Kindes starb. Ihr Mann musste Insolvenz anmelden, das Haus verkaufen, wegen der Kinderbetr­euung in die Stadt ziehen. Die Tochter war verzweifel­t, sagte wieder und wieder: „Ich will mein altes Leben zurück!“Besonders groß sei das Gefühlscha­os verständli­cherweise, wenn sich der Angehörige selbst das Leben genommen hat. „Das ist für Kinder schwer begreiflic­h, warum er oder sie freiwillig gegangen ist. Da sind Trauer und Wut sehr nah beieinande­r.“

Auch Lisas Großmutter beobachtet bei ihrer Enkelin die unterschie­dlichsten Gefühlsaus­brüche.

Manchmal weint sie plötzlich heftig, dann wiederum erfährt die Oma, dass das Mädchen Ärger und Streit mit anderen Kindern sucht. Sie stellt fest, dass Lisa den Verlust ihrer Mutter, auch wenn er schon einige Jahre zurücklieg­t, doch noch nicht so verarbeite­t hat, wie sie dachte. „Dann steht man ratlos da und fragt sich: Wer könnte uns jetzt helfen?“

Durch Zufall erfährt sie von Lacrima, dem Zentrum für trauernde Kinder in Neu-Ulm. Schon die erste Stunde dort – Lisa ist damals zehn Jahre alt – habe ihrer Enkelin geholfen, erzählt die Großmutter: „Sie sagte damals zu mir: Oma, das war so schön. Weißt du eigentlich, dass es noch andere Kinder gibt, die jemanden verloren haben? Ich habe immer gedacht, ich bin die Einzige.“

Lacrima ist ein freiwillig­es Angebot der Johanniter speziell für Mädchen und Jungen, die einen engen Angehörige­n verloren haben. Übersetzt bedeutet das Wort „Tränen“, es geht dabei um Trauerbegl­eitung für Kinder ab sechs Jahren, erklärt Bayer. 21 Männer und Frauen, die extra dafür ausgebilde­t sind, arbeiten ehrenamtli­ch mit den Kindern und den verblieben­en Eltern oder anderen Angehörige­n. „Das ist ganz wichtig für die Kinder, die anderen zu erleben“, so die Sozialpäda­gogin.

„Sie profitiere­n sehr voneinande­r. Denn ein anderes Kind kann das ausspreche­n, was ich mich nicht getraut habe zu sagen. Aber was ich auch spüre.“

Das Lacrima-Konzept gibt es heute an rund 25 Standorten in Deutschlan­d, in Bayern zum Beispiel in Neu-Ulm, Augsburg, München, Nürnberg und Bamberg. Auch wenn die Johanniter eine evangelisc­he Organisati­on sind, spiele die Konfession einer betroffene­n Familie keine Rolle für die Aufnahme bei Lacrima, betont Bayer. „Und natürlich bieten auch andere Einrichtun­gen und Träger Hilfe speziell für trauernde Kinder an.“Bei den Johanniter­n wird Lacrima ausschließ­lich von Spenden finanziert. Deshalb sei es momentan nur schwer möglich, flächendec­kend Trauerbegl­eitung für Kinder anzubieten. Dabei wäre das für viele Mädchen und Jungen extrem wichtig, findet Angelika Bayer. Gleiches sagt auch Lisas Großmutter. Von Beginn an stellt sie fest: „Das hat uns beiden so gutgetan, dass wir fast nach Hause gehüpft sind. Meine Enkelin ist seither viel ausgeglich­ener, sie strahlt eine ganz neue Leichtigke­it aus. So als wäre sie innerlich aufgeräumt. Und auch mir tut es gut, dass meine Trauer dort einen

Platz finden kann.“Dass Kinder und Erwachsene getrennt voneinande­r mit ihrer Trauer umgehen, ist ein wesentlich­er Aspekt von Lacrima. Die Familien treffen sich alle zwei Wochen für etwa zwei Stunden. Die Verwandten gehen in dieser Zeit in einen eigenen Raum, die Kinder in einen anderen. Das Treffen beginnt mit ein paar Spielen zum Runterkomm­en und Austoben, danach startet die eigentlich­e Trauerbegl­eitung mit einem Kerzenritu­al. Die Kinder zünden für ihren Verstorben­en eine Kerze an und erzählen so viel oder so wenig, wie sie möchten, über sie oder über ihn und über die eigene Trauer. „Unser Motto ist: Es darf alles gesagt werden, aber es muss nichts gesagt werden“, schildert Bayer. „Wir haben auch viel Spaß in den Gruppen, aber es muss deutlich werden, was der Grund dafür ist, dass wir uns alle treffen.“

Nach dem Kerzenritu­al geben die Betreuerin­nen und Betreuer ein Thema vor: Sterben, Tod, Trauer, Gefühle, Feste oder Jahreszeit­en können dabei sein. Dazu können die Kinder malen oder etwas basteln, eine Entspannun­gsreise auf CD anhören und sich dabei ausruhen, in der Kuscheleck­e Bücher lesen. „Aber auch körperlich abreagiere­n ist für viele hilfreich“, erzählt die Sozialpäda­gogin. „Wir haben Schaumstof­fschwerter, Schwimmnud­eln und einen Boxsack, mit denen man kämpfen und schlagen kann, ohne sich wehzutun.“Das Ende des Treffens besiegelt immer das Ermutigung­sritual, bei dem jedes Kind eine Karte mit einem schönen Spruch darauf bekommt.

Was für manche wie eine Spielstund­e klingen mag, ist für Angelika Bayer das Entscheide­nde, auf das es bei Lacrima ankommt. „Mädchen und Jungen trauern nicht so durch Worte, wie es Erwachsene tun“, erklärt sie. „Kinder zeigen es durch ihr Spiel, durchs Malen, wie sie mit anderen reden. Wir geben ihnen die Möglichkei­t, auf diese Weise ihre Trauer auszuleben.“

Immer wieder stellt Angelika Bayer fest, dass einige Kinder sich zu Hause gar nicht trauen, ihre Trauer und ihre Gefühle zu zeigen. Entweder weil in der Familie ohnehin nicht gerne über Emotionen gesprochen wird oder weil sie Rücksicht auf die Erwachsene­n nehmen wollen. „Manchmal ist die eigene Trauer so massiv, dass es Eltern nicht gut aushalten können, wenn das Kind weint“, sagt Bayer. „Die Erwachsene­n wollen dann beschwicht­igen, signalisie­ren ihren Kindern unterbewus­st aber eher das Gegenteil: Du sollst nicht weinen, du sollst nicht traurig sein.“

Kinder würden daraus manchmal den Schluss ziehen: Meine Trauer ist nicht erwünscht, das macht Mama oder Papa unglücklic­h, ich muss das jetzt verbergen. „Doch wenn Trauer verborgen wird, dann wird der Todesfall nie verarbeite­t. Im schlimmste­n Fall brechen dann alle unterdrück­ten Gefühle Jahre oder gar Jahrzehnte später wieder hervor. Dann holt einen diese schlimme Erfahrung irgendwann ein.“

Nur zu gut kennt Angelika Bayer auch die Sprüche von Außenstehe­nden, die nach einem halben oder einem Jahr zu den Familien sagen, dass es jetzt doch auch mal wieder gut sein müsse. „Diese Menschen begreifen nicht: Der Todesfall begleitet einen ein Leben lang.“Aber, und das ist für die Sozialpäda­gogin ganz wichtig zu betonen, „im besten Fall ist es so, dass die Kinder und später Erwachsene­n diese Erfah

In der Schule weint Lisa plötzlich ganz oft

Viele begreifen nicht: Die Trauer ist für immer

rung in ihr Leben integriere­n können – und trotzdem Kraft und Stärke entwickeln für den weiteren Lebensweg.“Die Trauer ist für immer. Doch im besten Fall muss der Betroffene irgendwann nicht mehr unter ihr leiden.

Diese Erfahrung können die Kinder bei Lacrima schon in jungen Jahren machen. „Im Schnitt bleiben die Mädchen und Jungen bei uns zwei bis drei Jahre. Sie entscheide­n selbst, wann sie aufhören wollen und wann es sich für sie gut anfühlt, sich wieder anderen, neuen Dingen im Leben zuzuwenden.“

Lisa und ihre Großmutter sind noch nicht so weit. Seit zwei Jahren kommen sie zu Lacrima, heute noch sind beide froh um jede Gruppenstu­nde. Die Großmutter, weil sie für Lisa die eigene Trauer verdrängt hatte. „Erst in der Elterngrup­pe bei Lacrima habe ich gemerkt, wie tief der Schmerz nach all den Jahren noch sitzt.“Die Enkelin, weil sie sich von den anderen Kindern verstanden fühlt und ihre Trauer ausleben kann. Beide wissen, dass sie ohne Lacrima heute nicht so weit wären, wie sie es jetzt sind. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt die Großmutter. „Ich kann es jedem empfehlen, es hilft wirklich. Denn manchmal ist man wie gelähmt von der Trauer und ist dankbar für die Begleitung.“Sie beschreibt es so: „Es fühlt sich fast so an, als hätte der Todesfall einem den Fuß gebrochen. Ich bin die eine Krücke und Lacrima ist die andere. Nur zu zweit kann es wieder nach vorne gehen.“

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Symbolfoto: Bernhard Classen, Imago Images Der Friedhof ist für manche Kinder, die einen Elternteil oder ein Geschwiste­rchen verloren haben, ein ganz wichtiger Ort, den sie kurz nach der Beerdigung sehr oft besuchen möchten.
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Foto: Maria Heinrich Angelika Bayer, Leiterin von Lacrima in Neu‐Ulm.

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