Wenn Kinder Kinder töten
Gewalt Jüngst häuften sich Schlagzeilen über ermordete Mädchen und blutige Auseinandersetzungen unter Jugendlichen. Ein Zufall – oder Zeichen einer Entwicklung, bei der die Corona-Pandemie eine gefährliche Rolle spielt?
München/Memmingen In München wird ein 14 Jahre altes Mädchen im Schlaf erstochen – mutmaßlich von einem drei Jahre älteren Freund, der bei ihr übernachtet hatte. In Memmingerberg stirbt nahe des Flughafens ein 16 Jahre altes Mädchen. Ebenfalls durch Messerstiche. Tatverdächtig ist, neben einem 25-Jährigen, ein 15 Jahre altes Mädchen. In Augsburg endet ein Streit unter Jugendlichen blutig – auch hier ist ein Messer im Spiel, ein 17-Jähriger muss wegen schwerer Bauchverletzungen operiert werden.
Es ist nur eine Auswahl an ähnlich gelagerten Fällen, die sich in jüngster Vergangenheit zugetragen haben – die Gemeinsamkeit: stets gingen Kinder auf Kinder, Jugendliche auf Jugendliche mit Messern los und verletzten sich mitunter tödlich. Alles nur eine zufällige Häufung in den vergangenen Monaten? Oder steckt mehr dahinter? Werden Jugendliche immer krimineller und gewalttätiger? Spielt die Corona-Krise dabei eine Rolle?
Fragen, die sich auch Stephan Mayr stellt – und allerlei Antworten darauf bei seiner täglichen Arbeit findet. Der 59-Jährige aus dem Landkreis Aichach-Friedberg leitet im Polizeipräsidium München das Kommissariat 23 und ist damit zuständig für jugendtypische Gewaltdelikte. Er sagt: „Ja, wir stellen hier ganz deutlich eine Zunahme an Gewalt unter Jugendlichen fest.“Das zeige sich an den Fällen, die mehr würden. An der steigenden Zahl der Beteiligten, wenn es zwischen Jugendlichen zu Auseinandersetzungen kommt. Und an deren wachsender Bereitschaft, Waffen zu tragen und diese auch einzusetzen. „Von Baseballschlägern über Schlagringe bis hin zu Messern und Macheten – da ist alles dabei“, erzählt Mayr. Die Entwicklung, von der er spricht, habe etwa 2018 ihren Anfang genommen, während des CoronaLockdowns pausiert und etwa Mitte des vergangenen Jahres wieder deutlich an Fahrt aufgenommen. „Ich kann es wissenschaftlich nicht belegen, aber die Vermutung liegt natürlich nahe, dass sich da in Corona-Zeiten einiges aufgestaut hat“, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar. Ausgangsbeschränkungen, fehlende soziale Kontakte, ein Gefühl der ungerechten Behandlung, weniger Möglichkeiten, sich im Verein oder anderswo „auszupowern“– es brauche nicht viel Fantasie, um einen Zusammenhang zu steigender Gewaltbereitschaft herzustellen, sagt Mayr.
Sabrina Hoops vom Deutschen Jugendinstitut in München will einen solchen Zusammenhang nicht ausschließen – wenngleich sich eine Entwicklung, wie sie Kommissar Mayr beobachtet, noch nicht in den offiziellen, ihr zur Verfügung stehenden Statistiken niedergeschlagen habe. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren sei die Gewalt von und unter Jugendlichen – die von der Rauferei auf dem Schulhof bis hin zu schweren Straftaten reiche – stetig zurückgegangen, was Hoops unter anderem auf positive Entwicklungen im Rahmen von Präventionsund Jugendarbeit zurückführt. Doch auch diese leide aktuell unter den veränderten Lebensbedingungen in der Corona-Pandemie: „Wir befinden uns gerade alle in einer Ausnahmesituation und müssen aufmerksam beobachten, was diese mit den Jugendlichen macht“, sagt die Pädagogin, die seit Jahren im Bereich der Jugendkriminalität forscht.
Die Gründe dafür, dass Jugendliche gewalttätig werden, seien vielfältig, sagt Pädagogin Hoops. Was sich eindeutig sagen lasse ist, dass es sich bei Jugendgewalt in den allermeisten Fällen um Jungengewalt handelt. Viele der Täter würden aus belasteten Familien und Milieus stammen, in denen Gewalt kein
Tabu sei. Auch trage oftmals der Konsum von Alkohol zur Begehung von Straftaten bei.
Was hinter der Gewalt von Jugendlichen steckt, kann auch Kommissariatsleiter Mayr nicht sagen. Oder besser: immer weniger. Denn seit knapp zwei Jahren legt die deutsche Strafprozessordnung den Ermittlerinnen und Ermittlern bei ihrer Arbeit juristische Fesseln an. „Früher haben Verdächtige bei der Polizei einfach mal ausgepackt und uns so Einblicke in die Szene gegeben. Heute dürfen wir in vielen solcher Fälle die Verdächtigen nur noch vernehmen, wenn ihnen ein Verteidiger zur Seite steht“, sagt Mayr. Hintergrund der neuen Regelung ist eine EU-Richtlinie zum Schutz jugendlicher Beschuldigter. „Für uns macht es die Aufklärung gerade von schweren Straftaten schwerer“, kritisiert Polizist Mayr.
Schweigende Verdächtige – auch im Fall des am Memminger Flughafen umgebrachten Mädchens warten die Ermittler zwei Wochen nach der Tat noch auf Aussagen der beiden Verdächtigen. Sollte ihnen der Mord an dem Mädchen nachgewiesen und sie verurteilt werden, droht ihnen eine lange Haftstrafe. Welchen Verlauf ihr Leben danach nehmen wird, steht in den Sternen.
Grundsätzlich haben mehrere Studien zum Thema „Jugend und Gewalt“in der Vergangenheit gezeigt, dass eine problematische Jugend nicht zu einem Leben als Krimineller führen muss. Im Gegenteil: Häufig würden straffällig gewordene Jugendliche spätestens als Heranwachsende – als solche gelten 18- bis 21-Jährige – aufhören, Straf- und vor allem Gewalttaten zu begehen. Das betont auch Sabrina Hoops vom Deutschen Jugendinstitut. In den meisten Fällen erledige sich die Straffälligkeit in der Jugend mit der Zeit quasi von selbst.
Gleichermaßen sei es bei Jugendlichen, die schwere Gewalttaten verüben, sehr wohl angezeigt, „unterstützende Maßnahmen zu ergreifen, um ihnen dabei zu helfen, Normen und Regeln sowie alternative Handlungsmöglichkeiten zu lernen“. Hoops spricht von „angemessenen pädagogischen Reaktionen auf ein Fehlverhalten“. Von einer harten Bestrafung von jugendlichen Gewalttätern und langjährigem Freiheitsentzug ist sie hingegen weniger überzeugt. Viel wichtiger sei es, den Jugendlichen „Wege aufzuzeigen, wie sie ihr Leben verändern können“. » Kommentar