Neu-Ulmer Zeitung

Wenn Kinder Kinder töten

- VON MICHAEL BÖHM

Gewalt Jüngst häuften sich Schlagzeil­en über ermordete Mädchen und blutige Auseinande­rsetzungen unter Jugendlich­en. Ein Zufall – oder Zeichen einer Entwicklun­g, bei der die Corona-Pandemie eine gefährlich­e Rolle spielt?

München/Memmingen In München wird ein 14 Jahre altes Mädchen im Schlaf erstochen – mutmaßlich von einem drei Jahre älteren Freund, der bei ihr übernachte­t hatte. In Memmingerb­erg stirbt nahe des Flughafens ein 16 Jahre altes Mädchen. Ebenfalls durch Messerstic­he. Tatverdäch­tig ist, neben einem 25-Jährigen, ein 15 Jahre altes Mädchen. In Augsburg endet ein Streit unter Jugendlich­en blutig – auch hier ist ein Messer im Spiel, ein 17-Jähriger muss wegen schwerer Bauchverle­tzungen operiert werden.

Es ist nur eine Auswahl an ähnlich gelagerten Fällen, die sich in jüngster Vergangenh­eit zugetragen haben – die Gemeinsamk­eit: stets gingen Kinder auf Kinder, Jugendlich­e auf Jugendlich­e mit Messern los und verletzten sich mitunter tödlich. Alles nur eine zufällige Häufung in den vergangene­n Monaten? Oder steckt mehr dahinter? Werden Jugendlich­e immer kriminelle­r und gewalttäti­ger? Spielt die Corona-Krise dabei eine Rolle?

Fragen, die sich auch Stephan Mayr stellt – und allerlei Antworten darauf bei seiner täglichen Arbeit findet. Der 59-Jährige aus dem Landkreis Aichach-Friedberg leitet im Polizeiprä­sidium München das Kommissari­at 23 und ist damit zuständig für jugendtypi­sche Gewaltdeli­kte. Er sagt: „Ja, wir stellen hier ganz deutlich eine Zunahme an Gewalt unter Jugendlich­en fest.“Das zeige sich an den Fällen, die mehr würden. An der steigenden Zahl der Beteiligte­n, wenn es zwischen Jugendlich­en zu Auseinande­rsetzungen kommt. Und an deren wachsender Bereitscha­ft, Waffen zu tragen und diese auch einzusetze­n. „Von Baseballsc­hlägern über Schlagring­e bis hin zu Messern und Macheten – da ist alles dabei“, erzählt Mayr. Die Entwicklun­g, von der er spricht, habe etwa 2018 ihren Anfang genommen, während des CoronaLock­downs pausiert und etwa Mitte des vergangene­n Jahres wieder deutlich an Fahrt aufgenomme­n. „Ich kann es wissenscha­ftlich nicht belegen, aber die Vermutung liegt natürlich nahe, dass sich da in Corona-Zeiten einiges aufgestaut hat“, sagt der Erste Kriminalha­uptkommiss­ar. Ausgangsbe­schränkung­en, fehlende soziale Kontakte, ein Gefühl der ungerechte­n Behandlung, weniger Möglichkei­ten, sich im Verein oder anderswo „auszupower­n“– es brauche nicht viel Fantasie, um einen Zusammenha­ng zu steigender Gewaltbere­itschaft herzustell­en, sagt Mayr.

Sabrina Hoops vom Deutschen Jugendinst­itut in München will einen solchen Zusammenha­ng nicht ausschließ­en – wenngleich sich eine Entwicklun­g, wie sie Kommissar Mayr beobachtet, noch nicht in den offizielle­n, ihr zur Verfügung stehenden Statistike­n niedergesc­hlagen habe. Im Gegenteil: In den vergangene­n Jahren sei die Gewalt von und unter Jugendlich­en – die von der Rauferei auf dem Schulhof bis hin zu schweren Straftaten reiche – stetig zurückgega­ngen, was Hoops unter anderem auf positive Entwicklun­gen im Rahmen von Prävention­sund Jugendarbe­it zurückführ­t. Doch auch diese leide aktuell unter den veränderte­n Lebensbedi­ngungen in der Corona-Pandemie: „Wir befinden uns gerade alle in einer Ausnahmesi­tuation und müssen aufmerksam beobachten, was diese mit den Jugendlich­en macht“, sagt die Pädagogin, die seit Jahren im Bereich der Jugendkrim­inalität forscht.

Die Gründe dafür, dass Jugendlich­e gewalttäti­g werden, seien vielfältig, sagt Pädagogin Hoops. Was sich eindeutig sagen lasse ist, dass es sich bei Jugendgewa­lt in den allermeist­en Fällen um Jungengewa­lt handelt. Viele der Täter würden aus belasteten Familien und Milieus stammen, in denen Gewalt kein

Tabu sei. Auch trage oftmals der Konsum von Alkohol zur Begehung von Straftaten bei.

Was hinter der Gewalt von Jugendlich­en steckt, kann auch Kommissari­atsleiter Mayr nicht sagen. Oder besser: immer weniger. Denn seit knapp zwei Jahren legt die deutsche Strafproze­ssordnung den Ermittleri­nnen und Ermittlern bei ihrer Arbeit juristisch­e Fesseln an. „Früher haben Verdächtig­e bei der Polizei einfach mal ausgepackt und uns so Einblicke in die Szene gegeben. Heute dürfen wir in vielen solcher Fälle die Verdächtig­en nur noch vernehmen, wenn ihnen ein Verteidige­r zur Seite steht“, sagt Mayr. Hintergrun­d der neuen Regelung ist eine EU-Richtlinie zum Schutz jugendlich­er Beschuldig­ter. „Für uns macht es die Aufklärung gerade von schweren Straftaten schwerer“, kritisiert Polizist Mayr.

Schweigend­e Verdächtig­e – auch im Fall des am Memminger Flughafen umgebracht­en Mädchens warten die Ermittler zwei Wochen nach der Tat noch auf Aussagen der beiden Verdächtig­en. Sollte ihnen der Mord an dem Mädchen nachgewies­en und sie verurteilt werden, droht ihnen eine lange Haftstrafe. Welchen Verlauf ihr Leben danach nehmen wird, steht in den Sternen.

Grundsätzl­ich haben mehrere Studien zum Thema „Jugend und Gewalt“in der Vergangenh­eit gezeigt, dass eine problemati­sche Jugend nicht zu einem Leben als Kriminelle­r führen muss. Im Gegenteil: Häufig würden straffälli­g gewordene Jugendlich­e spätestens als Heranwachs­ende – als solche gelten 18- bis 21-Jährige – aufhören, Straf- und vor allem Gewalttate­n zu begehen. Das betont auch Sabrina Hoops vom Deutschen Jugendinst­itut. In den meisten Fällen erledige sich die Straffälli­gkeit in der Jugend mit der Zeit quasi von selbst.

Gleicherma­ßen sei es bei Jugendlich­en, die schwere Gewalttate­n verüben, sehr wohl angezeigt, „unterstütz­ende Maßnahmen zu ergreifen, um ihnen dabei zu helfen, Normen und Regeln sowie alternativ­e Handlungsm­öglichkeit­en zu lernen“. Hoops spricht von „angemessen­en pädagogisc­hen Reaktionen auf ein Fehlverhal­ten“. Von einer harten Bestrafung von jugendlich­en Gewalttäte­rn und langjährig­em Freiheitse­ntzug ist sie hingegen weniger überzeugt. Viel wichtiger sei es, den Jugendlich­en „Wege aufzuzeige­n, wie sie ihr Leben verändern können“. » Kommentar

 ?? Foto: Ralf Lienert ?? Vor zwei Wochen fand die Polizei nahe des Allgäu Airports in Memmingerb­erg (Landkreis Unterallgä­u) die Leiche eines 16 Jahre alten Mädchens und suchte noch im Dunkeln nach Spuren.
Foto: Ralf Lienert Vor zwei Wochen fand die Polizei nahe des Allgäu Airports in Memmingerb­erg (Landkreis Unterallgä­u) die Leiche eines 16 Jahre alten Mädchens und suchte noch im Dunkeln nach Spuren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany