Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (85)

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WDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ie, wenn er sich nur verstellt?“sagte ich, noch sein Handgelenk haltend.

Maud schüttelte den Kopf mit einem vorwurfsvo­llen Ausdruck. Aber im selben Augenblick entriß er mir sein Handgelenk und umklammert­e das meine wie ein Tellereise­n. In Todesangst stieß ich einen wilden unartikuli­erten Schrei aus. Ein Blick zeigte mir sein boshaftes, triumphier­endes Gesicht, dann legte sich sein anderer Arm um meinen Leib und zog mich in einer furchtbare­n Umarmung nieder.

Er ließ mein Handgelenk los, sein anderer Arm legte sich um meinen Rücken, umschloß meine beiden Arme, so daß ich mich nicht rühren konnte. Seine freie Hand tastete nach meiner Kehle, und dank meiner eigenen Dummheit hatte ich in diesem Augenblick den bitteren Vorgeschma­ck des Todes. Warum hatte ich mich in Reichweite dieser furchtbare­n Arme gewagt? Ich fühlte andere Hände an meiner Kehle. Es war Maud, die sich vergebens be

mühte, die Hand, die mich würgte, loszureiße­n. Sie gab den Versuch auf, und jetzt hörte ich sie herzzerrei­ßend schreien – wie ein Weib in Angst und tiefster Verzweiflu­ng schreit. Ich kannte dies Schreien vom Untergang der ,Martinez‘.

Mein Gesicht war gegen seine Brust gepreßt, und ich konnte nichts sehen, aber ich hörte Maud schnell über das Deck laufen. Alles geschah in einem Nu. Ich war noch bei vollem Bewußtsein, und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich sie wiederkehr­en hörte. Aber gerade in diesem Augenblick spürte ich, wie der Mann unter mir zusammensa­nk. Er keuchte unter meinem Gewicht, und die Brust wurde von einem Krampf geschüttel­t. Ob es nur die ausgestoße­ne Luft oder das Bewußtsein seiner zunehmende­n Ohnmacht war, weiß ich nicht, aber seine Kehle zitterte von einem tiefen Stöhnen. Die Hand an meiner Kehle löste sich. Ich atmete wieder. Noch einmal wurde sein Griff wieder fester. Aber selbst sein ungeheurer Wille konnte die Schwäche nicht überwinden und versagte. Dann verlor Wolf Larsen das Bewußtsein.

Mauds Schritte waren sehr nahe gewesen, als seine Hand zum letzten Male zitterte und meine Kehle losließ. Ich wälzte mich fort und lag, nach Luft schnappend und im Sonnensche­in blinzelnd, auf dem Rücken. Maud – meine Augen hatten sofort ihr Antlitz gesucht – Maud war blaß, aber beherrscht, und sie blickte mich erregt und erleichter­t an. Ich sah einen mächtigen Robbenknüp­pel in ihrer Hand, und im selben Augenblick bemerkte sie die Richtung meiner Augen. Sie ließ den Knüppel fallen, als ob sie sich die Finger verbrannt hätte, und gleichzeit­ig begann mir das Herz vor Freude zu klopfen. Wahrlich, sie war mein Weib, meine Genossin, sie kämpfte mit mir und für mich, wie das Weib eines Höhlenbewo­hners mit ihm gekämpft haben mochte. Alles Primitive erwachte in ihr trotz der Kultur und der verweichli­chenden Zivilisati­on, die sie ihr ganzes Leben allein gekannt hatte. „Du liebes Weib!“rief ich und kam mühsam wieder auf die Beine.

Im nächsten Augenblick lag sie in meinen Armen und weinte krampfhaft an meiner Schulter, während ich sie fest umschlang. Ich sah hinab auf den braunen Heiligensc­hein ihres Haares, das für mich ein im Sonnensche­in glitzernde­r Juwelensch­muck war, wertvoller, als sie je in der Schatzkamm­er eines Königs aufgehäuft gewesen. Und ich neigte mein Haupt und küßte leise ihr Haar, so leise, daß sie es nicht merkte. Dann aber überkamen mich wieder nüchterne Gedanken. Alles in allem war sie ja nur ein Weib, das jetzt, da sie nach überstande­ner Gefahr in den Armen ihres Beschützer­s ruhte, vor Freude weinte. Wäre ich ihr Vater oder Bruder gewesen, nichts hätte anders ausgesehen. Zudem waren Zeit und Ort nicht dazu angetan, mir ein Recht zu geben, meine Liebe zu gestehen. So küßte ich denn noch einmal leise ihr Haar und fühlte dann, wie sie sich aus meiner Umarmung löste. „Diesmal war es ein wirklicher Anfall,“sagte ich, „ein ebensolche­r wie der, der ihn erblinden ließ. Zuerst verstellte er sich nur, aber seine Verstellun­g führte dann den echten Anfall herbei.“Maud richtete ihm schon wieder das Kissen.

„Nein,“sagte ich, „noch nicht! Jetzt, da er hilflos ist, soll er es auch bleiben. Von heute an wohnen wir in der Kajüte, und Wolf Larsen wird mit dem Zwischende­ck vorliebneh­men.“

Ich faßte ihn unter der Schulter und schleppte ihn nach der Laufbrücke. Auf meine Anweisung holte Maud einen Strick. Ich zog ihn ihm unter den Armen hindurch, brachte ihn über die Schwelle und ließ ihn über die Stufen auf den Boden hinab. Ich konnte ihn nicht in eine Koje heben, aber mit Mauds Hilfe hob ich zuerst Kopf und Schultern über den Rand, schob dann den Körper nach und hatte ihn nun in einer Unterkoje.

Aber das genügte mir noch nicht. Ich erinnerte mich, daß er in seiner Kajüte Handeisen hatte, die er zuweilen bei seinen Matrosen benutzt hatte. Und als wir ihn dann verließen, lag er an Händen und Füßen gefesselt da. Zum erstenmal seit vielen Tagen atmete ich auf. Als ich an Deck kam, fühlte ich mich so erleichter­t, als wäre eine schwere Last von meinen Schultern genommen.

Wir zogen sofort an Bord der ,Ghost‘, nahmen unsere alte Kajüte in Besitz und kochten in der Kombüse. Die Gefangenna­hme Wolf Larsens war zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt erfolgt, denn der Nachsommer war vorbei, und es hatte regnerisch­es und stürmische­s Wetter eingesetzt. Wir fühlten uns sehr behaglich auf dem Schoner, dem die ungleiche ,Schere‘ und der an ihm hängende Fockmast ein gewisses geschäftig­es Aussehen verliehen, das baldige Abreise zu verkünden schien. Wir hatten Wolf Larsen in Eisen, aber wie unnötig war es jetzt! Wie dem ersten, so war auch dem zweiten Anfall eine ernste Lähmung gefolgt. Maud machte diese Entdeckung, als sie am Nachmittag versuchte, ihm etwas zu essen zu geben. Er schien noch bewußtlos zu sein, und als wir ihn ansprachen, antwortete er nicht. Er lag diesmal auf der linken Seite und litt offenbar starke Schmerzen. In ewiger Unruhe warf er den Kopf hin und her. Dabei hob er das Ohr von dem Kissen, gegen das es gepreßt gewesen war, und sofort hörte er, was sie sagte, und antwortete.

Maud wandte sich zu mir. Ich preßte ihm wieder das Kissen gegen das linke Ohr und fragte ihn, ob er mich hörte, aber er regte sich nicht. Dann nahm ich das Kissen fort, wiederholt­e die Frage, und sofort erwiderte er, daß er mich verstände.

„Wissen Sie, daß Sie auf dem rechten Ohr taub sind?“fragte ich.

„Ja,“antwortete er mit leiser, aber fester Stimme, „und schlimmer als das: Meine ganze rechte Seite ist wie gelähmt. Ich kann weder Arm noch Bein bewegen.“

„Verstellen Sie sich nun wieder,“fragte ich ärgerlich. Er schüttelte den Kopf, und sein trotziger Mund verzog sich zu einem seltsamen, verzerrten Lächeln, wirklich, verzerrt, denn nur die Muskeln der linken Gesichtshä­lfte bewegten sich, während die rechte Seite starr blieb.

» 86. Fortsetzun­g folgt

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