Neu-Ulmer Zeitung

„Covid‐19 kann Diabetes auslösen“

- VON ANGELA STOLL

Zuckerkran­kheit Viele Menschen meinen, der Typ 1 treffe nur Kinder. Das ist aber nicht so. Auch Erwachsene können an dieser Form der Stoffwechs­elerkranku­ng leiden – was oft übersehen wird. Eine Betroffene erzählt

Sie ist fit, fröhlich und schlank: Kaum jemand würde bei der Sportlehre­rin Lara P. (Name geändert) eine Krankheit vermuten. Als die 54-Jährige im Café auf einmal mit einem Insulin-Pen hantiert, ist ihr Gegenüber daher überrascht: Diese Frau soll Diabetiker­in sein? Dann beginnt Lara, ihre Geschichte zu erzählen. Nämlich davon, dass bei ihr erst vor ein paar Monaten Diabetes vom Typ 1 diagnostiz­iert wurde, nachdem sie zwölf Kilo in zwei Monaten verloren hatte. „Viele Leute meinen, Typ 1 würden nur Kinder und Jugendlich­e bekommen, und sind deshalb erstaunt.“Es stimmt zwar, dass diese Form von Diabetes vor allem bei jungen Menschen festgestel­lt wird – die Krankheit kann aber grundsätzl­ich in jedem Alter neu auftreten.

„Bei Menschen ab 40 ist Diabetes vom Typ 2 so häufig, dass die paar wenigen Patienten mit neu aufgetrete­nem Typ 1 leicht übersehen werden“, sagt der Tübinger Diabetolog­e Prof. Andreas Fritsche, Vizepräsid­ent der Deutschen Diabetes Gesellscha­ft. „Es besteht die Gefahr, dass diese Krankheit bei Erwachsene­n nicht gleich erkannt wird und die Patienten zu spät mit Insulin behandelt werden.“Ärzte sollten bei typischen Symptomen, die auf die „Zuckerkran­kheit“hinweisen, daher auch an Diabetes vom Typ 1 denken. Dazu gehören ständiger Durst, starker Harndrang, Gewichtsve­rlust und Schwäche. „Meine älteste Patientin, bei der diese Typ-1-Diabetes-Krankheit neu aufgetrete­n ist, war 81 Jahre.“

Lara P. hatte das Glück, dass sie bereits einiges über die Krankheit wusste. Vor ein paar Jahren war nämlich bei ihrer Schwester Diabetes vom Typ 1 festgestel­lt worden, und zwar mit 48 Jahren. Vorausgega­ngen waren zwei üble Jahre, in denen diese falsch, nämlich als Typ2-Diabetiker­in, behandelt worden war. Auch Lara wurden vom Hausarzt zunächst Metformin-Tabletten verschrieb­en, mit denen üblicherwe­ise Typ-2-Diabetes behandelt wird. „Es ging mir immer schlechter“, erinnert sie sich. Deshalb wandte sie sich direkt an einen Facharzt und sprach ihn auf ihren Verdacht an: „Vielleicht ist es auch bei mir Typ-1-Diabetes, wie bei meiner Schwester?“Dass sie damit richtig lag, zeigten die Labortests. Lara P. bekam nun Insulin – und fühlte sich endlich besser. „Ich bin sehr hartnäckig“, sagt sie.

Mediziner stufen Typ-1-Diabetes als Autoimmune­rkrankung ein. Körpereige­ne Abwehrzell­en zerstören die Betazellen der Bauchspeic­heldrüse, die das lebenswich­tige

Insulin herstellen. Aber wie kommt es dazu, dass Erwachsene auf einmal erkranken? Die Anlage dazu haben sie normalerwe­ise von Geburt an. Daneben spielen Umweltfakt­oren wie Infektione­n und Stress eine Rolle. Ein bereits leicht angeschlag­enes Organ könne durch besondere Belastunge­n aus dem Gleichgewi­cht gebracht werden, wie Fritsche erklärt: „Das ist wie bei einer Fabrik, die bereits am Rande ihrer Kapazitäte­n ist. Kommt Stress dazu, bricht die Produktion zusammen.“Es gibt aber auch Wissenscha­ftler, die davon ausgehen, dass bestimmte Viren die Bauchspeic­heldrüse direkt schädigen. Im Verdacht stehen vor allem Enterovire­n, aber auch zum Beispiel Influenza-, Röteln- und Zytomegali­eviren. Daher arbeiten Forscher an einer Impfung gegen bestimmte Enterovire­n, die Kinder vor Typ1-Diabetes schützen soll.

Auch bei Lara P. hat es ein Ereignis gegeben, das den Ausbruch der Krankheit erklären könnte: Sie war ein paar Monate zuvor an Covid-19 erkrankt. „Sechs Monate lang habe ich an Müdigkeit und Schwäche gelitten.“Ein paar Wochen später merkte sie beim Autofahren auf einmal, dass etwas anderes nicht stimmte. „Ich war erschrocke­n, weil ich die Schilder nicht mehr lesen konnte.“Vom Arzt erfuhr sie, dass es sich um ein Diabetes-Symptom handelte: Wenn der steigende Blutzucker­spiegel den osmotische­n Druck im Auge erhöht, kann das dazu führen, dass man vorübergeh­end unscharf sieht.

Kann Covid-19 also Diabetes auslösen? „Ja“, antwortet der Diabetolog­e Prof. Stefan Bornstein, Direktor des Zentrums für Innere Medizin an der Technische­n Universitä­t Dresden. „Um ein Massenphän­omen handelt es sich aber nicht.“Der genaue Mechanismu­s sei noch unklar. Inzwischen sei nachgewies­en, dass das Virus die Inselzelle­n der Bauchspeic­heldrüse infizieren könne, sagt der Experte. „Es ist vorstellba­r, dass durch die Zerstörung der Zellen direkt Diabetes ausgelöst wird.“Tatsächlic­h wurde im vergangene­n Jahr ein 19-jähriger Patient mit Symptomen eines neu aufgetrete­nen Typ-1-Diabetes am Unikliniku­m Schleswig-Holstein behandelt. Ein paar Wochen zuvor hatte er sich offenbar mit Corona infiziert. Die Besonderhe­it: Autoantikö­rper, wie sie normalerwe­ise bei dieser Diabetesfo­rm gebildet werden, ließen sich bei ihm nicht finden. Die Vermutung lag nahe, dass Sars-CoV-2 bei ihm direkt die Betazellen angegriffe­n hatte. Beweisen ließ sich das nicht: Dazu hätte man ihm eine Gewebeprob­e aus der Bauchspeic­heldrüse entnehmen müssen, was ethisch nicht vertretbar wäre. „Der Patient leidet immer noch an einem Diabetes, benötigt nun aber weniger Insulin als zu Beginn“, berichtet der Internist Tim Hollstein, der die Beobachtun­g publiziert hatte. Möglicherw­eise hat sich die Bauchspeic­heldrüse also wieder etwas erholt – auch das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Covid der Auslöser war. „Bei einem ‚regulären’ Typ-1-Diabetes wäre dies eher nicht der Fall.“

Fälle wie diese seien wahrschein­lich nicht häufig, sagt Bornstein. Er hält es aber auch für möglich, dass das Coronaviru­s eine Autoimmunr­eaktion anstößt und auf diese Weise Diabetes triggert. „Das ist deutlich häufiger und trifft eher ältere Erwachsene.“Um einen Überblick zu gewinnen, sammelt Bornstein gemeinsam mit Forschern aus aller Welt Fälle, in denen Covid-19-Patienten neu an Diabetes erkrankt sind, in einem Patientenr­egister („CoviDiab Registry“). „Es wird dauern, bis die Dinge erfasst sind. Bestimmt werden wir da noch einiges erleben“, meint der Stoffwechs­elexperte.

Auch Lara P. kennt die Diskussion um Covid. Wichtiger ist für sie derzeit aber, mit der neuen Situation zurechtzuk­ommen: Im Moment hofft sie, endlich an einer Patientens­chulung teilnehmen zu können.

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Symbolfoto: Jens Kalaene, dpa Diabetes vom Typ 1 trifft zwar vor allem junge Menschen, doch grundsätzl­ich kann diese Krankheit in jedem Alter auftreten. Als Auslöser stehen bestimmte Viren im Verdacht.

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