Neu-Ulmer Zeitung

Schwerkran­ke dürfen nicht länger unter der Politik leiden

- VON MICHAEL POHL

Leitartike­l Bund, Länder und die Ampel fahren das Klinikwese­n an die Wand. Die Zeit für Experiment­e in der Corona-Politik ist vorbei. Der Zwang zur Triage wäre ein Verbrechen

Die Corona-Politik von Bund und Ländern hatte Welle für Welle im Grunde nur ein Ziel: die Überlastun­g der Intensivst­ationen zu verhindern. Doch obwohl der Erfahrungs­schatz Welle für Welle wachsen sollte, war das deutsche Gesundheit­ssystem noch nie so nahe am Kollaps wie in diesen Wochen. Derzeit leiden tausende Menschen in Deutschlan­d darunter, dass wichtige Operatione­n verschoben werden, mal um Tage, mal um Wochen, mal unbestimmt. Selbst Krebskrank­e, die gerade die erschütter­nde Diagnose erhalten haben, erleben, wie Kliniken für dringende Eingriffe Warteliste­n führen.

Dieser Zustand ist der modernen Bundesrepu­blik und ihres stolzen Gesundheit­ssystems schlicht unwürdig. Die Kranken als Schwächste der Gesellscha­ft leiden, während die Politik in Bund und Ländern sich im Streit um die richtigen Gegenmaßna­hmen verhakt und den Ernst der Lage im deutschen Gesundheit­ssystem nicht erkannt hat. Es geht schon lange nicht mehr um die beklagensw­erte Arbeitsbel­astung des Pflegepers­onals. Es geht um die gesundheit­liche Versorgung der Bevölkerun­g.

Intensivst­ationen sind die Achillesfe­rse der modernen Medizin. Hier kämpfen Ärztinnen und Ärzte jeden Tag um Leben oder Tod der Schwerstkr­anken – unabhängig von Corona. Für viele Operatione­n ist ein freies Notfallbet­t in der Hinterhand – und sei es nur als Versicheru­ng – eine Voraussetz­ung, um riskante Eingriffe vorzunehme­n.

Schon jetzt müssen drei Viertel aller deutschen Krankenhäu­ser im Notbetrieb arbeiten und unzählige Operatione­n verschiebe­n. Dramatisch an dieser Situation ist, dass den Medizinern dabei eine positive Perspektiv­e fehlt. Im Gegenteil – die Perspektiv­e erscheint Tag für Tag düsterer: Mit bundesweit steigenden Infektions­zahlen wird die Bettensitu­ation auf absehbare Zeit immer schwierige­r. Denn CoronaKran­ke „blockieren“Intensivbe­tten viel länger als die große Zahl anderer Intensivpa­tienten, die nur wenige Tage die Überlebens­medizin benötigen, bis sie wieder über dem Berg sind. In jedem Bett könne so im Normalfall ein Vielfaches an Menschen behandelt werden.

Dass Bayern jetzt – wie einst Italien und Frankreich in der ersten

Welle – Patientinn­en und Patienten ausfliegen muss, um seine Notfallver­sorgung mit Mühe und Not aufrechtzu­erhalten, ist ein erschrecke­ndes Versagen in der Pandemie.

Der größte Fehler war, bundesweit auf das Frühwarnsy­stem der Sieben-Tage-Inzidenzen zu verzichten. Anstatt es dynamisch an die Impfquoten anzupassen, verließ man sich auf eine „Krankenhau­sampel“. Sie funktionie­rt bis heute nicht. Die oft per Fax versandten

Meldungen sind teils um Wochen veraltet. Der nächste große Fehler nimmt seinen Lauf: Obwohl sich bundesweit die Situation Tag für Tag verschlech­tert, drückt sich die Politik vor notwendige­n harten Maßnahmen. Wer die Überlastun­g der Intensivst­ationen verhindern will, hat keine andere Wahl mehr als einen Lockdown. Je später er kommt, desto länger wird er dauern. Die Zeit der Experiment­e mit irren Bezeichnun­gen wie „2G-Plus“ist vorbei. Auch die FDP sollte endlich ihren Widerstand aufgeben: In Karlsruhe haben die Profis der Verfassung gesprochen.

Andernfall­s wird die Politik das wichtigste aller ihrer Verspreche­n brechen – das Funktionie­ren der Intensivme­dizin. In Österreich lenkte die Politik erst ein, als die ersten Kliniken konkret mit Triage drohten: dem Sortieren, welcher Patient eine Chance auf der Intensivst­ation bekommt und welcher den sicheren Tod findet. Diese Entscheidu­ng ist keinem Arzt und keiner Ärztin in Deutschlan­d zuzumuten. Der Zwang zur Triage durch politische­s Versagen wäre ein Verbrechen.

Je später der Lockdown kommt, desto länger wird er

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Zeichnung: Tomicek Karlsruher Christopho­rus
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