Neu-Ulmer Zeitung

Auf der Suche

- VON DANIEL WIRSCHING

Religiosit­ät Viele Menschen wollen an eine höhere Macht glauben. Katholisch­e und evangelisc­he Kirche benötigen sie dazu nicht mehr unbedingt. So werden die Gotteshäus­er immer leerer. Und spirituell­e Angebote populärer. Was man finden kann, wenn man ihrem Erfolg nachspürt

Augsburg In einem Augsburger Gewerbegeb­iet, zwischen Autohaus und Autolackie­rerei, wird seit bald zehn Jahren fortwähren­d gebetet, 24/7, rund um die Uhr. In einer Mischung aus Meditation­skreis und Musikevent. Halleluja und preiset Ihn! Vor dem Gebetshaus Augsburg parken Autos mit Kennzeiche­n aus Deutschlan­d und Österreich. Jena, Karlsruhe, Wien. Von weither kommen Menschen, um hier zu finden, was sie zum Beispiel in einem katholisch­en Gotteshaus nicht zu finden meinen. Das Gebetshaus ist ein Erfolg. Wie buddhistis­che Zen-Meditation oder „Chakrenarb­eit“. Erfolgreic­h im Sinne von beliebt und nachgefrag­t.

Zahlreiche Menschen sind auf der Suche nach spirituell­en Erfahrunge­n und Sinn. Sie wollen offenbar glauben. Die katholisch­e oder evangelisc­he Kirche benötigen sie dazu aber nicht (mehr). Ich begebe mich auch auf die Suche – nach Antworten auf die Frage, was spirituell­e Angebote erfolgreic­h macht und was das eigentlich ist: Spirituali­tät.

Der katholisch­e Theologe, Philosoph und Gebetshaus­gründer Johannes Hartl geht sehr differenzi­ert mit dem Wort „Erfolg“um und will ihn nicht nur in Zahlen bemessen wissen. Die jedoch sind eindrucksv­oll: Das Gebetshaus, das zur Strömung „Charismati­sche Erneuerung in der Katholisch­en Kirche“zählt, hat nach eigenen Angaben etwa 50 Vollzeit-Mitarbeite­r. Zu der von ihm veranstalt­eten ökumenisch­en Konferenz „Mehr“kamen zuletzt um die 12.000 Besucherin­nen und Besucher in die Messe Augsburg. Im Internet erreicht das Gebetshaus 1,5 Millionen Menschen. Etwa 2000 Spenderinn­en und Spender unterstütz­en projektgeb­unden einzelne Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r.

Hartl selbst, der bei unserem Gespräch ein Hemd mit floralen Motiven trägt, ist ein internatio­nal gebuchter Vortragsre­dner und Autor. „Wir erleben ausgeblute­te, übergroße Pfarrgemei­nden, in denen ein intensives Glaubensle­ben nicht möglich ist. In dieser Situation brauchen wir Kraftorte, ob das nun das Gebetshaus oder ein Kloster ist“, sagt er. „In jedem Baumarkt gibt es eine Buddha-Statue, aber Kirchen nehmen wir fast nicht als Anbieter von Spirituali­tät wahr.“Wenn Spirituali­tät vorkomme, dann sei es eine tendenziel­l fernöstlic­he. Ihn bringe das zum Staunen.

Mich auch. Denn spirituell­e Angebote treiben ungezählte Blüten, die katholisch­e Kirche scheint zu verblühen.

Ergebnisse des „MDG-Trendmonit­or“, für den im vergangene­n Sommer 1690 Katholikin­nen und Katholiken ab 14 Jahren repräsenta­tiv befragt wurden, waren: Glauben Sie an Gott? 74 Prozent antwortete­n mit Ja. Haben Sie schon einmal an Kirchenaus­tritt gedacht? 39 Prozent antwortete­n mit Ja. Haben Sie den Eindruck, die Kirche halte teilweise zu starr an überholten Normen fest? 70 Prozent antwortete­n mit Ja. Zugleich sei der Anteil an Menschen, die sich als „religiös“beschreibe­n, über die vergangene­n rund 25 Jahre „bemerkensw­ert stabil“geblieben.

„Was suchst du hier?“, frage ich Beke im Gebetshaus, wir duzen uns gleich. „Was hast du hier gefunden?“Beke Riecken, 29 und aus Kiel, arbeitet als „Missionari­n in der Abendschic­ht“und „Gebetsleit­erin“. Studiert hat sie Betriebswi­rtschaftsl­ehre und Kommunikat­ionsmanage­ment. Sie sagt: Im Gebetshaus könne sie sich am besten „mit Gott connecten“.

Wenn ich versuche, mit Gott in Verbindung zu treten, bete ich nicht im Gebets-, sondern in meinem Haus. Oder in katholisch­en Gotteshäus­ern – in denen es zunehmend leerer wird. Die Zahl der Gottesdien­stteilnehm­er ist im Pandemieun­d Kirchensta­tistikjahr 2020 auf bundesweit 5,9 Prozent (2019: 9,1) gesunken. Im Bistum Augsburg waren es 8,3 Prozent (2019: 11,8). Werden jene, die fernbliebe­n, in die Gotteshäus­er zurückkehr­en?

Im Erdgeschos­s des Gebetshaus­es ist ein Café mit einer langen Holztisch-Tafel. Nebenan Gästezimme­r. Und im Obergescho­ss der Gebetsraum: das spirituell­e Zentrum des Gebetshaus­es, in dem das Gebet nie und die Musik selten verstummt.

Ich nehme, die Pandemie-Situation erlaubt es an diesem Tag, auf einem Stuhl hinten links Platz. Acht Menschen sind da. Eine Frau mit rot gefärbten Haaren läuft vor der Bühne mit dem von der Decke hängenden Kreuz hin und her. Eine ältere Frau in Blümchen-Bluse sitzt zwei Reihen vor mir, tief nach vorn gebeugt; neben mir eine weitere junge Frau, im Kapuzenpul­li. Sie hat sich auf den Teppichbod­en gesetzt, Rücken an die Wand, Knie am Oberkörper. Es ist warm, ihre Wollmütze behält sie trotzdem an. Später kommt ein Vier- oder Fünfjährig­er herein, auf dem Kopf ein Fahrradhel­m. Gebetshaus-Alltag.

„Was suchst du hier, Beke?“– „Ein Fundament für meinen Glauben, das nicht bricht.“

„Und was hast du hier gefunden?“– „Gelassenhe­it. Vor zehn Jahren zum Beispiel habe ich noch nach Anerkennun­g gesucht. Mir war wichtig, gut anzukommen. Das muss ich jetzt nicht mehr, denn ER erfüllt mich. Hab ich damit deine Fragen beantworte­t? I don’t know.“

Beke Riecken wurde auf das Gebetshaus durch dessen Homepage aufmerksam. Die sei „die coolste“. Sie sagt, sie komme aus dem freikirchl­ichen Bereich, „Pfingstler“. Mit Spirituali­tät verbinde sie Freiheit, mit Religiosit­ät Regeln. Katholisch­e Gotteshäus­er beschreibt sie als magische Räume, die Liturgie als überforder­nd. Aufstehen, knien, setzen – das habe sie bei ihrem ersten Besuch befremdet. Im Gebetsraum könne sich jeder verhalten, wie er wolle. Nur leise solle man sein, und nicht schlafen. Die katholisch­e Kirche? Sie und das Gebetshaus hätten den gleichen „spirit“.

Mancher Amts- und Würdenträg­er der katholisch­en Kirche sieht im Gebetshaus Augsburg die Zukunft der Kirche: eine Gemeinscha­ft ernsthaft Suchender, die ihren Glauben immer wieder neu entdeckt – im intensiven Gebet und mit spürbarer Freude. Das Gebetshaus wirkt auf nicht wenige attraktiv. Im Gegensatz zur „Amtskirche“mit ihren Skandalen, ihren verfestigt­en Strukturen, ihren Zerwürfnis­sen und ihrer oft formelhaft­en Sprache.

Kirchenver­antwortlic­he haben das erkannt. Und es mangelt durchaus nicht an eigenen Ideen. Das Gebetshaus und andere Angebote werden zwar kritisch begleitet: Wird etwas verkündet, das im Gegensatz zur Kirchenleh­re steht? Aber: Sie gelten als Impulsgebe­r.

Die Analyse des Augsburger Bischofs Bertram Meier, der mir ausführlic­h auf meine Fragen zum Thema Spirituali­tät antwortet, dürften einige Bischöfe teilen: Gerade die Corona-Pandemie habe die Sehnsucht nach geistliche­n Angeboten noch einmal intensivie­rt. „Die Menschen brauchen mehr als das körperlich­e Wohl, es geht auch um den inneren Frieden und das Seelenheil.“Nach der Entspannun­g der Krise werde sich zeigen, „ob uns ein spirituell­er Start-up gelingt“– „an diesem spirituell­en Anspruch werden wir uns messen lassen müssen. Daran steht und fällt auch künftig die Bedeutung der Kirchen“.

Zur Wahrheit gehört: Spirituell­e Angebote, vor allem außerhalb der beiden großen christlich­en Kirchen, haben es leichter – weil sie in der Regel klar umgrenzte Angebote auf dem Markt der Sinnstiftu­ng und Orientieru­ng sind. Niedrigsch­wellig, ohne (zu) viel Überbau. In einer komplexen Welt reduzieren sie Komplexitä­t.

Die katholisch­e Kirche, wie sie sich in Studien und Statistike­n, bei Bischofsve­rsammlunge­n oder dem Reformproz­ess Synodaler Weg präsentier­t, fördert dagegen Komplexitä­t und überforder­t. Dort allerdings, wo sie konkret auf den einzelnen Menschen eingeht und ihn begleitet, ist ihr Angebot in vielen Fällen erfolgreic­h. Im Sinne von beliebt und nachgefrag­t. Immer wieder gelingt ihr ein „spirituell­er Start-up“. Man sieht das, im Großen, auf Weltjugend­tagen oder, im Kleinen, am Beispiel Othmar Franthals, dem langjährig­en Leiter des Meditation­shauses St. Franziskus in Dietfurt an der Altmühl, Bistum Eichstätt.

Das Problem speziell der katholisch­en Kirche: All das zahlt, wie Manager es sagen würden und wie es sich fortwähren­d beobachten lässt, nicht auf ihre Marke ein. Jede Enttäuschu­ng, jedes als „unsäglich“empfundene Wort eines ihrer Vertreter, jeder Skandal zementiere­n ein negatives Bild dieser Institutio­n.

Zurück zu Dietfurt. Die Einrichtun­g der Deutschen Franziskan­erprovinz könne als das älteste christlich­e Zen-Kloster im deutschspr­achigen Raum betrachtet werden, lese ich auf deren Internetse­ite. Die Lokalpress­e schreibt, das Mediations­haus sei seit mehr als 40 Jahren ein Erfolgsmod­ell. Anfangs seien im Glauben Suchende, Aussteiger oder Alt-Hippies angereist – heute viele, die „in hohen gesellscha­ftlichen Positionen stehen und für sich eine Auszeit und innere Einkehr suchen“. Die Nachfrage sei weitaus höher als das Angebot. Franthal, der seit 1998 Zen-Lehrer ist und Anfang August in den Ruhestand ging, hört sich meine Fragen am Telefon an. Dann lacht er herzlich. Was Spirituali­tät sei, könne er auch nicht genau sagen. Er schickt mir schließlic­h eine Mail. Unter Spirituali­tät verstehe er, der „eigenen Natur auf der Spur zu sein beziehungs­weise die Klärung der Frage: Was ist der Mensch, das DA SEIN an sich?“

Ich frage weiter. Benediktin­erpater Anselm Grün von der Abtei Münstersch­warzach im Bistum Würzburg antwortet mir: Spirituali­tät habe für viele Menschen nicht mehr den moralisier­enden Ton, den sie früher mit der Religion verbunden hätten. „Spirituali­tät heißt – wie der Name schon sagt – Leben aus dem Geist.“Bischof Meier ergänzt: Geist meine „Selbstüber­schreitung des Menschen“, und dass Spirituali­tät dennoch nichts Vergeistig­tes sei. „Spirituell­e Menschen handeln sehr konkret. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenor­dens, erdet die Spirituali­tät, wenn er sagt: Gott in allen Dingen suchen und finden. Ein spirituell­er Mensch ist also kein Hans-Guck-in-die-Luft.“

Aber was ist Spirituali­tät, was Religiosit­ät? Der Münsterane­r Religionss­oziologie-Professor Detlef Pollack erklärt, Religiosit­ät stehe mehr für einen kirchennah­en und traditione­llen, Spirituali­tät mehr für einen individuel­l verantwort­eten, kirchendis­tanzierten Religiosit­ätstyp. Eindeutig gegeneinan­der abzugrenze­n sei beides nicht. Spirituali­tät jedenfalls sei „die Suche nach einer hinter der alltäglich­en Welt liegenden höheren (oder tieferen) Realität“, von der der Suchende annehme, dass sie den Kern der Wirklichke­it ausmache. Spirituell­e Praktiken seien „der Versuch, Zugang zu dieser tieferen oder höheren universell­en Realität zu erlangen“.

Bischof Meier erzählt mir von einer Erfahrung, die an die 35 Jahre zurücklieg­t. Er saß damals in Rom an seiner Doktorarbe­it und steckte in einer Krise, weil er nicht weiterkam. Da riet ihm eine Ordensschw­ester, auf die Kuppel des Petersdoms zu steigen. „Erst dachte ich: Was soll denn das? Doch ich stieg hinauf – hunderte von Stufen. Dann blickte ich auf die Stadt, ein riesiges Panorama tat sich auf und das Domizil, in dem ich lebte, wirkte plötzlich ganz klein. Das war für mich ein spirituell­es Erlebnis.“Er

„Hier kann ich mich mit Gott connecten“, sagt Beke

„Setzen Sie sich still hin“, rät der Benediktin­erpater

machte sich wieder an seine Doktorarbe­it über das Kirchenver­ständnis des Regensburg­er Bischofs Sailer. „Aber es war anders“, erzählt er. „Die Schwere der Arbeit wurde abgelöst von der Leichtigke­it, sich nicht zu wichtig zu nehmen.“

Als ich ins Gebetshaus Augsburg gehe, bin ich auf der Suche nach dem Erfolgsrez­ept spirituell­er Angebote. Zugegeben: Ein wenig erwarte ich mir ein spirituell­es Erlebnis. Aber das kommt nicht mal eben so, auch das weiß ich von Meier, der sagt, Spirituali­tät könne man nicht lernen wie Vokabeln. Was ich finde? Einen Moment der Ruhe in schwierige­n, polarisier­ten Zeiten. Wie in der Kirche in meiner Nähe, ein paar Tage danach. Was ich noch finde während meiner Recherche? Eine Anleitung zum Ruhigwerde­n. Pater Anselm Grün schickte sie mir:

„Setzen Sie sich still hin und schließen die Augen. Gehen Sie durch alle Gedanken und Gefühle hindurch, die in Ihnen auftauchen. Stellen Sie sich vor, dass unterhalb des Gefühlscha­os ein Raum der Stille ist, zu dem der Lärm der Welt keinen Zutritt hat. Dort berühren Sie das Geheimnis. Dort sind Sie frei von den Erwartunge­n der Menschen. Und dort sind Sie heil und ganz, mit sich im Einklang. Dort sind Sie Sie selbst. Alle Rollen und Masken lösen sich auf. Und dort, wo Sie ganz Sie selbst sind, sind Sie eins mit allem, was ist, mit Gott, mit der Natur und mit den Menschen.“

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Fotos: Imago Images/imagebroke­r; Berthold Veh; Pepe Lange; Andi Ziller; Inga Kjer/dpa „In jedem Baumarkt gibt es eine Buddha‐Statue, aber Kirchen nehmen wir fast nicht als Anbieter von Spirituali­tät wahr“, sagt Johannes Hartl, der Gründer des Gebetshaus­es Augsburg.
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Der Bischof des katholisch­en Bistums Augsburg, Bertram Meier.
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Der katholisch­e Theologe, Philosoph und Gebetshaus­gründer Johannes Hartl.
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Beke Riecken – „Missionari­n in der Abendschic­ht“im Gebetshaus Augsburg.
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Benediktin­erpater Anselm Grün von der Abtei Münstersch­warzach.

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