Neu-Ulmer Zeitung

Plant Putin den Einmarsch in die Ukraine?

- VON ULRICH KRÖKEL

Hintergrun­d Während der Truppenauf­marsch an der Grenze und Putschgerü­chte für Unruhe in Kiew sorgen, beraten die Nato-Außenminis­ter über Reaktionen auf die angespannt­e Lage. Welche Absichten verfolgt Moskau?

körpert von Ludwig XIV. oder Napoleon Bonaparte – einbüßt, weil es die „Islamisier­ung“nicht stoppe.

Zweimal wurde der Sohn jüdischer Algerienfr­anzosen wegen Provokatio­n zum Rassenhass verurteilt. Gerade erst stand er vor Gericht. „Sie haben hier nichts zu suchen, sie sind Diebe, sie sind Mörder, sie sind Vergewalti­ger“, hatte er von unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­e gesagt. Mit solchen Aussagen gibt er sich radikaler als seine Konkurrent­in, die Rechtspopu­listin Marine Le Pen. Viele Franzosen kennen Zemmour aus dem Fernsehen und halten ihn für historisch gebildet – auch wenn Spezialist­en seine Thesen regelmäßig auseinande­rnehmen.

Umfragen sahen Zemmour schon in der Stichwahl gegen Präsident Emmanuel Macron, doch zuletzt fielen seine Werte auf rund 15 Prozent gegenüber 20 Prozent für Le Pen. Der Bürgermeis­ter von London, Sadiq Khan, und die Stadtpräsi­dentin von Genf, Frédérique Perler, ließen bei Besuchen Zemmours wissen, er sei nicht willkommen. Bei einer Visite in Marseille wurde er ausgebuht und dabei fotografie­rt, wie er einer Frau einen Stinkefing­er zeigte. Eine „unelegante“, aber eben instinktiv­e Geste, rechtferti­gte er sich hinterher.

„Man kann sich Fragen über seine Fähigkeit, unser Land zu repräsenti­eren, stellen“, sagte Regierungs­sprecher Gabriel Attal am Dienstag. Zemmour verkaufe sich „wie ein französisc­her Trump“. Anders als Trump hat er allerdings keine große Partei und auch kaum prominente Anhänger hinter sich.

Berlin Erst die Eskalation zwischen Belarus und Polen, nun die Ukraine: Im Osten Europas wächst die Kriegsangs­t. Vor einem zweitägige­n Treffen der Nato-Außenminis­ter im lettischen Riga warnt der deutsche Ressortche­f Heiko Maas am Dienstag: „Für jede Form der Aggression müsste Russland einen hohen Preis zahlen.“Zuvor hatte die US-Regierung angesichts eines russischen Truppenauf­marschs in der Grenzregio­n einen „Generalang­riff auf die Ukraine“nicht mehr ausgeschlo­ssen. Unterdesse­n schlägt in Kiew Präsident Wolodymyr Selenskyj Alarm. Sein Geheimdien­st habe ihm Informatio­nen über von Moskau gesteuerte Putschplän­e vorgelegt: „Anfang Dezember soll in unserem Land ein Umsturz stattfinde­n.“Das ist vor allem deshalb brisant, weil der Kreml die Maidan-Revolution von 2014 bis heute als Staatsstre­ich wertet und damit auch die KrimAnnexi­on und den separatist­ischen Krieg im Donbass rechtferti­gt.

Doch wie ernst ist die Lage wirklich? Die Führung in Moskau weist die Warnungen aus Kiew, Berlin und Washington als „Propaganda“zurück und kritisiert seinerseit­s Nato-Manöver im Schwarzen Meer. Zugleich dementiert der Kreml den Aufmarsch keineswegs: „Russland hat das Recht, seine Streitkräf­te auf seinem Territoriu­m nach eigenem Ermessen zu bewegen.“Ähnliche Sätze waren in Moskau bereits im Frühjahr gefallen. Damals hatte das russische Militär schon einmal invasionsf­ähige Truppen im Grenzgebie­t zusammenge­zogen. Nach wochenlang­er Unsicherhe­it erklärte Präsident Wladimir Putin: „Sollte jemand unsere roten Linien überschrei­ten, werden wir schnell und hart reagieren.“Kurz darauf zogen sich die Truppen zurück. „Alles nur eine Machtdemon­stration, um den neuen US-Präsidente­n Joe Biden zu testen“, lautete damals eine verbreitet­e Einschätzu­ng im Westen.

Doch nun sind die Truppen wieder da. Satelliten­bilder belegen, dass die russische Armee rund 1200 Panzer und moderne Angriffswa­ffen im Westen des Landes zusammenge­zogen hat. Der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmytro Kuleba nennt die Zahl von 115.000 Soldaten, die Russland im Dreiländer­eck mit Belarus und der Ukraine stationier­t habe. Mit dem Aufmarsch stellt sich auch die Frage nach Putins Plänen neu. Denn um einen Biden-Test wird es sich kaum handeln.

Einig sind sich westliche Beobachter, dass Russland die Mittel für eine Invasion hätte. Die USA haben die ukrainisch­e Armee zuletzt zwar mit Panzerabwe­hrraketen aufgerüste­t. Das ändere am Kräfteverh­ältnis aber wenig, erklärt der US-Militärexp­erte Matthew Schmidt: „Putins Panzer zu stoppen, bringt nichts. Wenn der Kreml den Donbass oder Kiew erobern will, werden selbst US-Waffen das Unvermeidl­iche nur verzögern.“Unter dem Strich, so Schmidt, stehe eine klare Erkenntnis: „Die Ukraine ist für die USA bei weitem nicht so wichtig wie für Russland, und das wissen beide Seiten.“Auch in Brüssel, Paris und Berlin geht niemand davon aus, dass die Nato aktiv in einen neuen Ukraine-Krieg eingreifen würde. Eine militärisc­he Konfrontat­ion mit Russland wegen des Donbass werde es nicht geben, lautet das einhellige

Urteil von Sicherheit­spolitiker­n und Militärexp­ertinnen. In Kiew wiederum ist die Angst vor einer Invasion vor allem deshalb so groß, weil sich die geopolitis­che Lage im postsowjet­ischen Raum zuletzt noch einmal deutlich verschärft hat. Besonders die Massenprot­este in Belarus nach der Wahl 2020 waren für die Kremlstrat­egen ein Alarmsigna­l.

Im Westen wurde die Wirkung auf Russland unterschät­zt. Die Moskauer Politikwis­senschaftl­erin Jekaterina Schulmann wies schon früh auf eine simple, aber für den Kreml höchst beunruhige­nde Rechnung hin: „Das belarussis­che 2020 ist das russische 2024.“In gut zwei Jahren muss sich Putin zur Wiederwahl stellen. Und er wäre 2024 ähnlich lange im Amt, wie es der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o 2020 war. Es war deshalb kein Zufall, dass der Kreml Lukaschenk­o unterstütz­te und fast zeitgleich den Kampf gegen die Opposition im eigenen Land deutlich verschärft­e. Den Auftakt machte der Giftanschl­ag auf den populärste­n Putin-Kritiker Alexei Nawalny im August 2020, nur elf Tage nach der Wahl in Belarus. Im Winter ließ Putin die Proteste gegen Nawalnys Inhaftieru­ng brutal niederschl­agen. Es folgten der Truppenauf­marsch im Donbass und eine militärisc­he Beinahe-Eskalation vor dem NatoManöve­r „Sea Breeze“im Schwarzen Meer. Damals warfen russische Kampfjets Bomben vor den Bug eines britischen Kriegsschi­ffs.

Die stärksten Kopfschmer­zen bereiten Beobachter­n im Westen vorerst nicht Bomben und Panzer, sondern schriftlic­he Einlassung­en aus der Feder Putins. Im Juli dieses Jahres veröffentl­ichte der Präsident einen Aufsatz „Über die historisch­e Einheit von Russen und Ukrainern“. Darin spricht er den ostslawisc­hen Nachbarn in Belarus und vor allem in der Ukraine eine eigene Nationalku­ltur und faktisch auch den Anspruch auf eine eigene Staatlichk­eit ab. Beide Völker seien zur Zeit des Zarenreich­es „in der großen russischen Nation aufgegange­n“, schreibt Putin. In einem ähnlichen Sinn hatte der Präsident die Annexion der Krim 2014 als „Wiedervere­inigung“bezeichnet. In seinem Essay warnt Putin vor der Schaffung eines vom Westen gesteuerte­n „Anti-Russlands“in der Ukraine. Das werde er nicht zulassen. Und schließlic­h folgt die Warnung: „Allen, die [in Kiew] eine solche Politik verfolgen, sage ich, dass sie auf diese Weise ihr Land zerstören.“

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Foto: Pool Sputni, dpa Ein russisches Kriegsschi­ff nimmt an einem Manöver im Schwarzen Meer vor der Krim teil.

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