Neu-Ulmer Zeitung

„Impfgegner stellen sich gegen das Gemeinwohl“

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Interview DGB-Vorsitzend­er Reiner Hoffmann würde eine Impfpflich­t unterstütz­en, wenn zuvor juristisch­e Bedenken ausgeräumt sind. Was der Gewerkscha­fter an den Plänen der Ampel-Koalition auszusetze­n hat

Herr Hoffmann, Corona scheint uns fester im Griff zu haben denn je. Wird das ein trauriges Weihnachts­fest? Reiner Hoffmann: Die Lage ist sehr angespannt. Die neue Virus-Variante Omikron könnte uns das Weihnachts­fest verhageln. Wir müssen jetzt alles daransetze­n, die vierte Corona-Welle zu brechen. Nur so haben wir die Chance, einen erneuten Lockdown zu verhindern. Wenn sich ein bundesweit­er Lockdown nicht verhindern lässt, sollten wir Schulen und Kitas so weit wie möglich offen halten. Eines hat Corona klar gezeigt: Homeschool­ing und Homeoffice vertragen sich nicht. Die Leidtragen­den sind nämlich vor allem die Frauen. Auf alle Fälle brauchen wir jetzt ein politisch bundesweit einheitlic­hes Vorgehen in der Corona-Politik.

Was kann jeder Einzelne tun, um die Welle zu brechen? Nur nach dem Staat zu rufen, ist ja immer einfach. Hoffmann: Sich impfen zu lassen ist das Gebot der Stunde. Wer das immer noch nicht getan hat, sollte es bitte schleunigs­t nachholen. Wer sich impfen lassen kann und es dennoch nicht tut, stellt seine eigenen Interessen in den Vordergrun­d und schadet damit nicht nur der Allgemeinh­eit, sondern auch sich selbst. Schließlic­h erkranken Ungeimpfte deutlich häufiger und schwerer an Corona als Geimpfte.

Impfen allein reicht aber leider nicht. Hoffmann: Weil die meisten Infektione­n im privaten Umfeld entstehen, ist es ein Gebot der Solidaritä­t, dass Menschen jetzt wieder Abstand halten. Wir sollten persönlich­e Begegnunge­n auf ein notwendige­s Maß beschränke­n. Gewerkscha­ftliche Solidaritä­t bedeutet auf Corona übertragen: Wir sollten besser wieder zu Hause bleiben, von Verwandten­besuchen so weit wie möglich Abstand nehmen und keine Partys feiern.

Ist Solidaritä­t der Schlüssel zur Überwindun­g der Krise?

Hoffmann: Solidaritä­t ist für mich ein ganz wichtiger Wert in der Krise. Doch Solidaritä­t wird in der Krise zwar häufig bekundet, aber zu wenig gelebt: Trotz aller Beteuerung­en gibt es im Pflegebere­ich immer noch keine anständige­n Löhne. Das Personal in den Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen geht auf dem Zahnfleisc­h. Zwar wurde die technische Einrichtun­g verbessert, aber es fehlt an Personal. Solidaritä­t darf keine Worthülse sein. Das war in der Vergangenh­eit viel zu oft so. So hat Noch-Gesundheit­sminister Jens Spahn die Gewerkscha­ft Verdi bei dem Versuch nicht unterstütz­t, einen allgemein verbindlic­hen Tarifvertr­ag im Pflegebere­ich einzuführe­n, was die Lage der Kräfte dort verbessert hätte. Am Ende haben sich hier auch die kirchliche­n Einrichtun­gen verweigert.

Doch die Lage in manchen Kliniken ist inzwischen grenzwerti­g.

Hoffmann: Das zeigt für mich ganz klar: Wir können nicht so weitermach­en wie bisher. Wir müssen die Gesundheit­sberufe nicht nur wertschätz­en, sondern auch besser bezahlen. Das Personal in Pflegeeinr­ichtungen und Kliniken muss ebenso angesehen sein wie Facharbeit­erinnen und Facharbeit­er, ja wie Ingenieuri­nnen und Ingenieure.

All das wirkt langfristi­g. Kurzfristi­g muss rasch gehandelt werden. Der künftige Kanzler Olaf Scholz holt sich nach italienisc­hem Vorbild eine Art Impf-General. Fehlt es den Deutschen an Disziplin und den politisch Verantwort­lichen an Konsequenz?

Hoffmann: Fest steht, dass sich die Verantwort­lichen nicht ausreichen­d auf die Dritt-, also Booster-Impfungen, vorbereite­t haben. Hier wurde allzu lax vorgegange­n. Und dass sich der scheidende Gesundheit­sminister im Wochentakt widersproc­hen hat, war auch nicht hilfreich.

Brauchen wir mehr Gemeinwohl-Disziplin und weniger Egoismus? Hoffmann: Das Gemeinwohl zu stärken, ist wesentlich bei der Bekämpfung der Pandemie. Doch Impfgegner stellen sich gegen das Gemeinwohl. Wir müssen das Gemeinwohl wieder in den Vordergrun­d rücken und dabei noch deutlicher als in den vergangene­n Wochen auftreten.

Also müssen wir letztlich doch eine Impfpflich­t für alle einführen. Hoffmann: Diese Diskussion müssen wir in den kommenden Wochen sachlich und offensiv führen. Klar ist aber auch, eine Impfpflich­t bringt keine schnellen Erfolge. Mit einer Impfpflich­t könnten wir uns aber besser auf den nächsten Herbst vorbereite­n.

Um so dank der Impfpflich­t vielleicht die fünfte Welle zu verhindern. Hoffmann: Das ist das Ziel. Das setzt aber voraus, dass auch jederzeit ausreichen­d Impfstoff vorhanden ist.

Sind Sie also für eine Impfpflich­t? Hoffmann: Natürlich müssen wir verfassung­srechtlich­e Bedenken gegen eine Impfpflich­t ernst nehmen, aber am Ende dürfen wir das Individual­interesse nicht über das Gemeinwohl­interesse stellen. Wenn wir verfassung­srechtlich auf der sicheren Seite sind und das Thema breit und offen diskutiert haben, stelle ich mich dem nicht entgegen. Ich weiß aber auch, dass das Thema „Impfpflich­t“bei den Gewerkscha­ftsmitglie­dern intensiv und kontrovers diskutiert wird. Wir brauchen einen breiten gesellscha­ftlichen Konsens. Daran werden wir uns beteiligen. Meine persönlich­e Präferenz ist dabei sehr klar.

Kriegen wir das mit einer Impfpflich­t hin? Der Chef des Energie-, Agrarund Baustoffhä­ndlers Baywa, Klaus Josef Lutz, sagt ja: „Ich habe den Eindruck, wir kriegen in Deutschlan­d nichts mehr hin.“

Hoffmann: Diese Einstellun­g halte ich für zu fatalistis­ch. Man muss anerkennen, dass wir in Deutschlan­d in der bisherigen Bekämpfung der Pandemie auch vieles richtig gemacht haben. Natürlich sind auch die Schwächen unseres Staates deutlich zutage getreten. Doch die Pandemie und Naturkatas­trophen wie das Hochwasser sind ein Weckruf für Deutschlan­d. Wir müssen jetzt die Zukunftshe­rausforder­ungen wie die Energiewen­de und die Digitalisi­erung beherzt anpacken.

Packt die Ampel-Koalition die Zukunftsth­emen beherzt genug an? Hoffmann: Die Ampel-Koalition hat richtige Themen adressiert. Das stimmt mich optimistis­ch. Der zentrale Satz des Koalitions­vertrages ist für mich, dass wir Herausford­erungen wie die Bekämpfung des Klimawande­ls und die Digitalisi­erung nur mit den Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern gemeinsam erfolgreic­h gestalten können. Diese Herausford­erungen sind so groß wie einst, als die Industrial­isierung ihren Ausgang nahm.

Sind Sie ein Ampel-Fan? Für einen Gewerkscha­fter gibt es dank des tätigen Mitwirkens der FDP am Koalitions­vertrag doch einiges zu mäkeln. Hoffmann: Natürlich gibt es auch klare Kritikpunk­te. Der Vertrag hat Stärken und Schwächen. Doch auch die FDP hat eine gewisse Lernkurve durchlaufe­n. Ich hoffe, dass sie an einstige sozial-liberale Zeiten anknüpft. Was ich aber am Koalitions­vertrag klar vermisse: Mir fehlen die Preisschil­der.

Welche Preisschil­der?

Hoffmann: Ich meine damit, dass durch die ambitionie­rten Ziele der neuen Regierung wie etwa beim

Klimaschut­z der Investitio­nsbedarf enorm gestiegen ist. Doch im Koalitions­vertrag werden diese Ziele nur allgemein genannt, ohne dass der Weg dorthin und die Finanzieru­ng konkret aufgezeigt werden. Diese finanziell­e Sicherheit brauchen die Menschen aber, wenn sie sich zum Beispiel auf die Energiewen­de einund verlassen sollen.

Statt Preisschil­der draufzukle­ben, will die neue Koalition die Schuldenbr­emse 2023 wieder scharf schalten. Hoffmann: Da wir vor einem Jahrzehnt der Investitio­nen stehen, reicht es nicht, die Schuldenbr­emse nur bis 2023 auszusetze­n. Wir brauchen eine grundlegen­de Reform der Schuldenre­geln. Wir müssen uns auch in Deutschlan­d genügend Spielraum für die dringend notwendige­n Investitio­nen verschaffe­n. Das ist auch eine Lehre aus Corona. Und die gerade wegen der hohen Energiepre­ise auf 5,2 Prozent gestiegene Inflations­rate gebietet es, dass wir gerade Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen finanziell entlasten. Sie können den steigenden Energiepre­isen nicht ausweichen, indem sie in moderne Niedrigene­rgie-Wohnungen ziehen, weil diese schlicht zu teuer für sie sind. Und sie können auch nicht ihren Benziner verschrott­en und auf Elektroaut­os umsteigen, weil auch die zu teuer für sie sind. Diese Umbruchzei­t birgt ein Risiko für unsere Demokratie.

Welches Risiko?

Hoffmann: In der zunehmend komplexen Welt ist die Gefahr groß, dass Menschen populistis­chen Parolen folgen. Gerade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen müssen merken, dass sie nicht allein die Zeche für den Strukturwa­ndel weg von fossiler zu erneuerbar­er Energie bezahlen. Die Menschen haben ein feines Gespür für soziale Gerechtigk­eit. Ich halte es jedenfalls für einen Fehler, dass sich die Ampel-Koalition nicht auf ein gerechtere­s Steuerkonz­ept geeinigt hat, also etwa auf eine verfassung­skonforme höhere Erbschafts­teuer für Menschen mit größerem Besitz. Erben ohne Leistung darf nicht belohnt werden.

Welche Fehler macht die Ampel noch? Hoffmann: Es ist auch ein Fehler, dass die Ampel-Koalition keine Vermögenss­teuer einführen will, obwohl das in einem am Gemeinwohl orientiert­en Staat geboten wäre. Solche Ungerechti­gkeiten spüren die Leute. Wenn nichts dagegen passiert, ist das Risiko groß, dass sie Feinde der Demokratie wählen.

Interview: Stefan Stahl

Reiner Hoffmann, 66, wurde 2014 als Nachfol‐ ger von Michael Sommer zum DGB‐Chef gewählt und 2018 bestätigt.

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? DGB‐Chef Reiner Hoffmann mahnt mehr Solidaritä­t in der Gesellscha­ft an. Die Aktionen von Impfgegner­n und Querdenker – wie hier in Frankfurt – sieht er daher kritisch.
Foto: Boris Roessler, dpa DGB‐Chef Reiner Hoffmann mahnt mehr Solidaritä­t in der Gesellscha­ft an. Die Aktionen von Impfgegner­n und Querdenker – wie hier in Frankfurt – sieht er daher kritisch.
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