Neu-Ulmer Zeitung

„Ein bisserl bayerische Extrawurst darf sein“

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Interview Landtagspr­äsidentin Ilse Aigner schaut immer wieder mal in die Verfassung des Freistaats, die vor 75 Jahren in Kraft getreten ist. Die Grundrecht­e sind ihr am wichtigste­n. Bei den blumigen Sätzen gerät sie ins Schwärmen

Frau Aigner, heute vor 75 Jahren trat die bayerische Verfassung in Kraft. Als Landtagspr­äsidentin sollten Sie den Text wie aus dem Effeff kennen. Was steht in Artikel 141?

Ilse Aigner: Lassen Sie mich nachdenken. Das ist auf jeden Fall kein Grundrecht­sartikel mehr. Die stehen weiter vorne. Ich vermute, dass es da schon um Wirtschaft geht.

Nicht ganz. Es geht da noch um die Natur.

Aigner: Ja. Jetzt weiß ich, was Sie meinen. Da stehen diese wunderbar blumigen Sätze drin.

Richtig. Zum Beispiel der Satz: „Der Genuss der Naturschön­heiten und die Erholung in der freien Natur, insbesonde­re das Betreten von Wald und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wild wachsender Waldfrücht­e in ortsüblich­em Umfang ist jedermann gestattet.“

Aigner: Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Ich habe das Jubiläumsj­ahr der Verfassung genutzt, um mal wieder etwas tiefer in das Thema einzusteig­en. Es ist wirklich spannend zu lesen, was da alles drinsteht. Besonders gut gefällt mir dieser Satz: „Die Sonntage und staatlich anerkannte­n Feiertage bleiben als Tage der seelischen Erhebung und der Arbeitsruh­e gesetzlich geschützt.“

„Seelische Erhebung“– sehr schön! Wo steht das?

Aigner: In Artikel 147.

Die Verfassung hat ja vier Hauptteile. Die ersten beiden enthalten harte Vorschrift­en. Sie betreffen den Staatsaufb­au, die Staatsaufg­aben und die Grundrecht­e. Weiter hinten kommen zwei weitere Hauptteile mit Programmsä­tzen zum Gemeinscha­ftsleben sowie zu Wirtschaft und Arbeit, die von Staatsrech­tlern halb liebevoll, halb spöttisch als „Verfassung­slyrik“bezeichnet werden. Darunter finden sich sogar sozialisti­sch anmutende Elemente.

Aigner: Sie meinen die Bestimmung „Eigentum verpflicht­et gegenüber der Gesamtheit“in Artikel 158.

Nein, ich wollte über den Artikel 106 reden, der vor allem Menschen interessie­rt, die sich das Wohnen in den Städten nicht mehr leisten können. Da heißt es: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessen­e Wohnung. Die Förderung des Baues billiger Volkswohnu­ngen ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden.“Da hapert es zur Zeit, oder?

Aigner: Es hapert heute vor allem an Boden. Aktuell ist die Knappheit an Boden in Städten wie München der Hauptgrund, warum im sozialen Wohnungsba­u nicht mehr getan werden kann. Aber man sollte bei diesen Programmsä­tzen den historisch­en Kontext nicht außer Acht lassen. Als die Verfassung 1946, also kurz nach Kriegsende, ausgearbei­tet wurde, war die Wohnungsno­t tatsächlic­h eklatant. Die Städte waren zerbombt. Das war eine ganz andere Dramatik als heute. Und auch in den 60er und 70er Jahren lebten viele Menschen noch in deutlich engeren Verhältnis­sen als jetzt. Trotzdem bleibt der soziale Wohnungsba­u eine wichtige Aufgabe. Es war weitblicke­nd, das als Programmsa­tz in die Verfassung zu schreiben.

Nun gibt es aber auch bei den strengeren Vorschrift­en Abweichung­en zwischen Text und Realität. Die FDPFraktio­n im Landtag fordert aktuell, die Zahl der Abgeordnet­en zu begrenzen. Laut Verfassung sollten es 180 sein. Aktuell sind es 205. Nach einer Hochrechnu­ng im Auftrag der FDP könnten es – bei einem CSU-Ergebnis wie zuletzt bei der Bundestags­wahl – nächstes Mal 236 sein. Dahinter steckt die Annahme, dass die CSU zwar die allermeist­en Stimmkreis­e direkt gewinnen, aber bei den Zweitstimm­en zurückfall­en würde. Das müsste dann durch zusätzlich­e Listenkand­idaten für die anderen Parteien ausgeglich­en werden.

Aigner: Die FDP ist da meines Erachtens nicht ohne Hintergeda­nken unterwegs. Sie will die Zahl der Stimmkreis­e reduzieren, weil sie ohnehin keine realistisc­he Chance hat, einen Stimmkreis zu gewinnen. Außerdem stimmt die Rechnung nicht ganz. Der Landeswahl­leiter hat für uns auch schon einmal gerechnet und kommt mit Erst- und Zweitstimm­en auf etwa 220 Sitze. Unabhängig davon aber gebe ich zu bedenken, dass die Zahl 180 erst seit der Wahlrechts­reform 1998 in der Verfassung steht. Tatsächlic­h lag die Zahl der Abgeordnet­en seit der Gründung des Freistaats stets bei rund 200. Im ersten Landtag nach dem Krieg waren es 204 Abgeordnet­e für knapp über neun Millionen Bürger. Aktuell haben wir 205 Abgeordnet­e für knapp über 13 Millionen Bürger. Das widerspric­ht nicht dem Geist der Verfassung.

Was gefällt Ihnen denn besonders an der bayerische­n Verfassung?

Aigner: Mich beeindruck­t immer wieder, wie schön sie strukturie­rt ist. Anders als im Grundgeset­z geht es sehr ausführlic­h erst um Staatsaufb­au und Staatsaufg­aben, seltsamerw­eise dann erst um die Grundrecht­e und danach folgen die langen Abschnitte über das gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Zusammenle­ben bis hin zur Landwirtsc­haft.

Was ist Ihre Lieblingss­telle?

Aigner: Am wichtigste­n sind selbstvers­tändlich die Grundrecht­sartikel, insbesonde­re Artikel 110, der das

Recht auf freie Meinungsäu­ßerung festschrei­bt. Besonders spannend und bemerkensw­ert aber finde ich, dass in unserer Verfassung nicht nur Grundrecht­e, sondern auch Grundpflic­hten formuliert sind. Zum Beispiel in Artikel 117: „Der ungestörte Genuss der Freiheit für jedermann hängt davon ab, dass alle ihre Treuepflic­ht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen.“Das ist schon beeindruck­end. Oder Artikel 121, die Pflicht zur Übernahme von Ehrenämter­n. Oder Artikel 122. Da heißt es: „Bei Unglücksfä­llen, Notständen und Naturkatas­trophen und im nachbarlic­hen Verkehr sind alle nach Maßgabe der Gesetze zur gegenseiti­gen Hilfe verpflicht­et.“

Das sind die schönen Stellen. Dann gibt es aber auch noch die verwirrend­en Stellen. Zum Beispiel Artikel 7, wonach erst Staatsbürg­er ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Kinder und Jugendlich­e scheinen da außen vor zu sein. Noch verwirrend­er ist Artikel 8. Da steht geschriebe­n: „Alle deutschen Staatsange­hörigen, die in Bayern ihren Wohnsitz haben, besitzen die gleichen Rechte und haben die gleichen Pflichten wie die bayerische­n Staatsange­hörigen.“

Aigner: Wie bitte?

Ja, das steht da. Selbsterkl­ärend ist es jedenfalls nicht.

Aigner: Das hängt wahrschein­lich damit zusammen, dass die bayerische Verfassung älter ist als das Grundgeset­z. Wir waren vor der Bundesrepu­blik da. Bayern ist mit seiner Verfassung dem Bundesstaa­t beigetrete­n. Ein bisserl „bayerische Extrawurst“darf schon sein.

In Artikel 118 steht, dass Frauen und Männer gleichbere­chtigt sind. Vor dem Hintergrun­d der aktuellen GenderDeba­tte stellt sich die Frage, ob jetzt auch in der Verfassung des Freistaats Bayern sprachlich nachgebess­ert werden sollte.

Aigner: Ich hätte kein Problem damit, wenn wir „Bürgerinne­n und Bürger“schreiben würden, oder auch „Landtagspr­äsidentin oder Landtagspr­äsident“. Ich bin auch ganz entspannt, was Umschreibu­ngen betrifft wie zum Beispiel „Studierend­e“.

Verstehe. Aber sonst muss doch nix geändert werden an der bayerische­n Verfassung.

Aigner: Na ja, zur Wahrheit gehört schon auch, dass einige Regelungen, die in der Verfassung weiter hinten stehen, durch Bundesgese­tz längst verändert worden sind. Und es gibt Regelungen, die schon lange nicht mehr zeitgemäß sind, wie zum Beispiel Artikel 152, wo es um die „staatliche Überwachun­g der Bedarfsdec­kung“geht. Dort heißt es sogar, dem Staat „obliegt die Sicherstel­lung der Versorgung des Landes mit elektrisch­er Kraft“. Das ist längst überholt.

Insofern ist die Verfassung nicht nur ein politisch-rechtliche­s und literarisc­h wertvolles, sondern auch ein historisch­es Dokument.

Aigner: Richtig. Und dennoch ist es bemerkensw­ert, dass das, was da vor 75 Jahren festgeschr­ieben worden ist, in seinen Grundzügen immer noch gilt. Die Verfassung ist geprägt von der Erfahrung einer menschenve­rachtenden Diktatur, die, wie es schon in der Präambel heißt, ein „Trümmerfel­d“hinterlass­en hatte. Die Grundwerte, die in der Verfassung zusammenge­fasst sind, sind heute noch genauso gültig wie damals. Nehmen wir noch einmal das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung. Wenn heute jemand proklamier­t, man dürfe bei uns nicht alles sagen, dem würde ich raten, sich mal in anderen Ländern umzuschaue­n, wo die Meinungsfr­eiheit tatsächlic­h nicht gilt. Jeder darf bei uns seine Meinung sagen. Aber gerade weil das so ist, darf auch jeder widersprec­hen. Niemand wird, nur weil er Widerspruc­h erntet, in seiner Meinungsfr­eiheit eingeschrä­nkt. Das ist der entscheide­nde Unterschie­d zu einer Diktatur. Unsere Verfassung schützt jeden in gleicher Weise – egal ob er der Mehrheit oder einer Minderheit angehört.

Interview: Uli Bachmeier

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Foto: Matthias Balk, dpa „Mich beeindruck­t immer wieder, wie schön sie strukturie­rt ist“, sagt Landtagspr­äsidentin Ilse Aigner über die bayerische Ver‐ fassung.

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