Neu-Ulmer Zeitung

„Eine Impfpflich­t unter 50 ist nicht erforderli­ch“

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Interview Der Risikoethi­ker und Entscheidu­ngstheoret­iker Julian Nida-Rümelin spricht über schwere Versäumnis­se in der Corona-Politik, den Lockdown als „mittelalte­rliche Reaktion“und die Spaltung durch den Druck auf Ungeimpfte

Herr Nida-Rümelin, es wird jetzt diskutiert, ob wir eine allgemeine Impfpflich­t brauchen. Ist sie nötig?

Julian Nida‐Rümelin: Der Ethikrat empfiehlt eine Impfpflich­t für Personen, die in Pflege- und Altenheime­n arbeiten. Dann ist es meiner Meinung nach nur konsequent, den nächsten Schritt zu gehen und die Insassen dieser Einrichtun­gen ebenfalls unter eine Impfpflich­t zu stellen.

Warum nicht alle, für die ein Impfstoff verfügbar ist?

Nida‐Rümelin: Ethisch betrachtet ist es ja so: Wir haben Eigenveran­twortung. Nach der kann ich jeden Abend zwei Flaschen Rotwein trinken – und der Staat greift nicht ein. Er greift auch nicht ein, wenn mich das mit einer Leberzirrh­ose in eine Intensivst­ation bringt. Wenn wir also eine wirklich verlässlic­he Impfung hätten, also zu 100 Prozent wirkend, und wenn wir nicht an Kapazitäts­grenzen im Gesundheit­swesen stießen, dann wären weitere staatliche Eingriffe illegitim. Denn jeder darf sich selbst schädigen. Wer sich nicht impft, riskiert eine schwere Erkrankung, jedenfalls dann, wenn älter oder gesundheit­lich vorbelaste­t. Aber das wäre dann jedem selbst überlassen. Dann wäre auch das Argument hinfällig, dass Infizierte andere infizieren können, denn jeder könnte sich ja schützen. Und gegen Selbstgefä­hrdung hat der Staat nicht zu intervenie­ren.

Nun haben wir aber weder die hundertpro­zentige Impfsicher­heit und wir stoßen an Kapazitäts­grenzen. Nida‐Rümelin: Ja, das sind also die beiden Gründe dafür, dass der Staat trotz Impfung das Recht hat zu intervenie­ren. Erstens bedeutet die fehlende Impfsicher­heit, dass auch die Geimpften noch vulnerabel sind, wenn auch in geringerem Maße. Deswegen müssen diese geschützt werden vor anderen. Und zweitens wollen wir verhindern, dass es zu Triage-Situatione­n kommt. Wenn die Hochaltrig­en ein hohes Risiko haben, schwer zu erkranken, insbesonde­re die Insassen von Alten- und Pflegeheim­en, dann sollte es dort meines Erachtens ebenfalls eine Impfpflich­t geben. Nicht um sich selbst zu schützen, sondern um das Gesundheit­ssystem vor Überlastun­g zu schützen. Denn wenn man in die Statistike­n schaut: Ungefähr die Hälfte der Todesfälle im letzten Winter waren aus den Alten- und Pflegeheim­en – dort ist aber nur ein sehr kleiner Prozentsat­z der Bevölkerun­g. Und die Wahrschein­lichkeit, sich in diesen Einrichtun­gen trotz aller Schutzmaßn­ahmen zu infizieren, war höher als außerhalb dieser Einrichtun­gen. Das ist ein echtes Versagen gewesen dieser Einrichtun­gen, aber auch der Politik. Und wenn man diesen ersten Impfpflich­t-Schritt gegangen ist, und auch das reicht nicht aus, was angesichts der aktuell extrem hohen und wohl weiter steigenden Inzidenzen demnächst wohl der Fall sein wird und etwa in Bayern bereits ist, dann muss man überlegen, ob man nicht allgemeine Impfpflich­ten vorsieht. Aber eben mit Einschränk­ungen.

Welchen? Und warum?

Nida‐Rümelin: Ich halte nichts davon, diese allgemeine Impfpflich­t im Alter auf alle auszudehne­n, auch auf Kinder ab demnächst fünf Jahren. Denn wenn es eine Impfpflich­t für einen 80-Jährigen gibt, dann kann man sicher sein, dass das in dessen ureigenste­m Interesse ist. Weil die Wahrschein­lichkeit, zu Tode zu kommen, bei ihm sehr hoch ist: Ein Viertel der Hochaltrig­en stirbt durch eine Infektion. Und die Nebenwirku­ngen sind in diesen Altersgrup­pen gering. Während etwa die Wahrschein­lichkeit bei einer 20-Jährigen, an einer Infektion schwer zu erkranken, extrem niedrig ist, zu sterben minimalst – und die Nebenwirku­ngen sind deutlich höher. Trotzdem spricht vieles dafür, dass auch diese sich impfen lassen sollte, weil Statistike­n zeigen, dass es auch für sie selbst günstig ist. Aber für eine Pflicht reicht das nicht. Und ja, wir leben in einer Solidargem­einschaft – aber Impfpflich­t als Pflicht zur Solidaritä­t: Da zuckt man mit guten Gründen zurück. Also außer bestimmten Berufsgrup­pen Pflicht nur für Menschen, die zweifellos selbst davon profitiere­n. Und die müssen dann übrigens auch nicht konkurrier­en um Impfstoffe, die nun aufgrund von Fehlplanun­gen und einer chaotische­n Kommunikat­ion seitens des noch amtierende­n Gesundheit­sministers, der alle gleichzeit­ig zum Boostern und Erstimpfen aufgerufen hat und zugleich das Angebot zurückgefa­hren hat, plötzlich knapp werden.

Welches Alter würden Sie ansetzen? Nida‐Rümelin: Die Daten zeigen, dass jedenfalls eine Impfpflich­t bei Menschen unter 50 nicht erforderli­ch ist, um die Überlastun­g des Gesundheit­ssystems zu vermeiden. Es kann sich sogar herausstel­len, dass eine Impfpflich­t für über 70-Jährige, aus er Gruppe also, aus der 90 Prozent der Todesfälle sind, ausreicht.

So kämen wir durch die Pandemie? Nida‐Rümelin: Umfassende­re Impfpflich­ten werden uns in den kommenden Wochen noch wenig helfen, aber sie können verhindern, dass der Stress der Pandemie-Maßnahmen sich im Jahresrhyt­hmus wiederholt. Im Hintergrun­d der Auseinande­rsetzung stehen zwei gegensätzl­iche Paradigmen, sie spielen, auch wenn uns das nicht bewusst ist, in die aktuellen Debatten immer wieder hinein. Die einen hängen immer noch dem Paradigma „No Covid“an, sagen: Wir müssen diese Pandemie beseitigen, durch Herdenimmu­nität, erreicht durch hohe Impfquoten. Wenn das erreichbar ist, wunderbar. Aber ich habe daran immer schon gezweifelt. Einmal, weil wir keine Herde sind, keine wohl abgegrenzt­e Gemeinscha­ft. Zum anderen wegen der Jüngeren, die wir zumindest bislang nicht impfen konnten. Und schließlic­h wegen einer gewissen Zahl von Impfverwei­gerern, die sich zumindest in Teilen vermutlich auch weigerten, wenn es eine Impfpflich­t gäbe. Und das Vierte ist, dass die Virus-Varianten tendenziel­l immer infektiöse­r werden – mit Omikron könnte das dramatisch zunehmen, wenn sich bisherigen Informatio­nen bewahrheit­en. Dann wird es immer unwahrsche­inlicher, dass wir mit Impfungen eine Herdenimmu­nität erreichen. Und darum brauchen wir einen Paradigmen­wechsel. Die Zielsetzun­g muss sein: Die Erkrankung­en, die ins Krankenhau­s, auf die Intensivst­ation oder zum Tode führen, so weit zu drücken, dass es auf ein erträglich­es Maß begrenzt ist. Wir müssen es vergleiche­n mit anderen Risiken, mit denen wir seit langem umgehen. Der naheliegen­de Vergleich ist die Grippe. Nicht zur Verharmlos­ung, denn Covid-19 ist ohne Gegenmaßna­hmen, ohne Impfungen um ein Vielfaches verheerend­er für diese drei Größen. Die Hoffnung ist, dass wir dieses Drücken durch Hygienereg­eln und Beschränku­ngen für alle, durch den Impffortsc­hritt, rechtzeiti­ge Boosterung und durch Impfpflich­ten bei bestimmten Gruppen der Bevölkerun­g erreichen – dann können wir mit dem Virus leben lernen. Dann kann es eingehen in die Reihe der vier schon vorhandene­n Corona-Typen, mit denen wir leben, und ist dann nicht mehr gefährlich­er als eine saisonale Grippe. Die ist gefährlich genug, aber da ergreifen wir bislang nie LockdownMa­ßnahmen, nicht einmal eine Maskenpfli­cht gibt es – und dabei sollten wir es auch belassen.

Werden auch nur teilweise Impfpflich­ten nicht das verschärfe­n, was ohnehin schon oft diagnostiz­iert wird: eine Spaltung der Gesellscha­ft? Nida‐Rümelin: Es ist natürlich spekulativ, was passieren wird, wenn… Aber ich bin ziemlich sicher, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird. Was wir gegenwärti­g haben, ist ja das verbreitet­e Gefühl: Den Menschen ist etwas versproche­n worden, es gibt keine Impfpflich­t und, wie Ministerpr­äsident Söder hinzugefüg­t hat, es wird auch kein Druck auf Ungeimpfte ausgeübt – und das Gegenteil geschieht. Der Druck auf Ungeimpfte steigt und steigt, bis hin zur sozialen Ausgrenzun­g, ein Lockdown für Ungeimpfte, die zwischenze­itlich auch für die Testungen selbst zahlen mussten. Es gibt also de facto eine Impfpflich­t durch die Hintertür durch diesen Druck und durch eine Moralisier­ung der Debatte samt wüsten wechselsei­tigen

Beschimpfu­ngen in den sogenannte­n sozialen Medien. Eine allgemeine Impfpflich­t kann auf all das verzichten. Sie sagt: Das ist nun mal die Regel, ihr seid jetzt älter als siebzig, das ist in eurem eigenen Interesse – und der Staat übernimmt übrigens damit auch eine Verantwort­ung für die Folgen. Aber dann sind weitergehe­nde Maßnahmen nicht erforderli­ch. Natürlich nicht von jetzt auf gleich – aber sobald diese Impfpflich­t ihren Effekt entfaltet, braucht es keine Druckmitte­l mehr. Manche sind jedenfalls sicher nicht aus Gründen der Risikoabsc­hätzung ergriffen worden. Denn ob zum Beispiel die Wahrschein­lichkeit für eine nicht geimpfte Person mit frischem Negativtes­t höher ist, infektiös zu sein, als bei einer Person, die vor sieben Monaten doppelt geimpft worden ist, da bin ich mir nicht so sicher. Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist die Ungleichbe­handlung aus Gründen der Risikomini­mierung nicht gerechtfer­tigt. Dann macht man das, damit Menschen sich impfen lassen. Was nachvollzi­ehbar ist – aber es führt natürlich zur Spaltung der Gesellscha­ft.

Sie haben oft gewarnt, wir dürften nicht in immer einen neuen Lockdown hineinlauf­en. Jetzt mehren sich die Stimmen, die diesen wieder fordern. Nida‐Rümelin: Lockdown, das ist die mittelalte­rliche Reaktion. Das hat geholfen, wenn es frühzeitig erfolgte. Aber es hat eben dramatisch­e Nebenfolge­n: Berufsverl­ust, Verlust der wirtschaft­lichen Existenz, die man sich aufgebaut hat, dramatisch­e Bildungsfo­lgen, Familienkr­isen… Da ist viel Verzweiflu­ng im Spiel. Gerade auch in nicht wenigen Familien, die nicht wissen, wie sie Arbeit und Kinderbetr­euung dann noch bewältigen sollen. Der Lockdown ist die uninspirie­rteste Reaktion. Aber wieder haben die Gesundheit­sämter die Kontrolle über das Infektions­geschehen verloren. Unter anderem, weil wir keine verpflicht­ende CoronaApp haben, weil sie nicht über einen zentralen Server läuft… Wegen eines teilweise dysfunktio­nalen Datenschut­zes, der ausgerechn­et in der Pandemie zu Höchstform aufläuft – und in der gleichen Zeit sterben hunderttau­send Menschen. Das ist grotesk! Lockdown-Maßnahmen können nur das allerletzt­e Mittel sein, man muss alles tun, um sie zu vermeiden. Und das ist nicht geschehen! Global gesehen – ich zitiere den scheidende­n Entwicklun­gsminister Müller – haben Lockdownma­ßnahmen für mehr Todesopfer gesorgt als Covid-19, durch Verelendun­g, Armut oder andere Krankheite­n, die sich ausgebreit­et haben…

Aber wird der Lockdown angesichts der sich nun zuspitzend­en Lage nötig? Nida‐Rümelin: Es könnte sein, dass auch die Tatsache, dass die Leute bereits spürbar weniger ausgehen, hilft, dass wir noch glimpflich davonkomme­n und darauf verzichten können. Ich hoffe es sehr.

Interview: Wolfgang Schütz

 ?? Foto: Diane von Schoen ?? Der Münchner Philosoph Julian Nida‐Rümelin, 67, ist auch stellvertr­etender Vorsit‐ zender des Deutschen Ethikrats. Sein jüngstes Buch heißt „Die Realität des Risikos“und handelt vom vernünftig­en Umgang mit Gefahren.
Foto: Diane von Schoen Der Münchner Philosoph Julian Nida‐Rümelin, 67, ist auch stellvertr­etender Vorsit‐ zender des Deutschen Ethikrats. Sein jüngstes Buch heißt „Die Realität des Risikos“und handelt vom vernünftig­en Umgang mit Gefahren.

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