Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (86)

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DDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

as war das letzte Spiel des Wolfes“, sagte er.

„Ich bin gelähmt, ich werde nie wieder gehen. Oh, nur die andere Seite“, fügte er hinzu, als erriete er den mißtrauisc­hen Blick, den ich auf sein linkes Bein warf, dessen Knie sich soeben unter der Decke gekrümmt hatte.

„Es ist auch wirklich Pech“, fuhr er fort. „Ich würde mich gefreut haben, wenn ich Ihnen wenigstens den Garaus gemacht hätte. Dazu, dachte ich, würden meine Kräfte noch reichen.“

„Aber warum denn?“fragte ich entsetzt, aber doch neugierig.

Wieder verzog sich sein trotziger Mund zu dem verzerrten Lächeln, und er sagte:

„Ach nur, um lebendig zu sein, zu leben und zu handeln, um das größere Stück Gärstoff zu sein, um Sie zu fressen. Aber auf diese Weise zu sterben…“

Er zuckte die Achseln oder versuchte es vielmehr, denn nur die linke Schulter bewegte sich. Sein Ach

selzucken war ebenso verzerrt wie sein Lächeln.

„Aber haben Sie eine Erklärung für Ihre Krankheit?“fragte ich. „Wo sitzt sie?“

„Im Gehirn“, erwiderte er sofort. „Die verfluchte­n Kopfschmer­zen sind die Ursache.“

„Symptome“, meinte ich. Er nickte. „Es gibt keine Erklärung. Ich bin nie in meinem Leben krank gewesen. Irgend etwas ist mit meinem Gehirn los. Ein Geschwür, ein Tumor oder etwas derartiges – etwas, das frißt und zerstört. Es greift mein Nervenzent­rum an, frißt es Stück auf Stück, Zelle auf Zelle – vor Schmerz.“

„Auch die Bewegungsz­entren“, warf ich ein.

„Es scheint so, und das Verfluchte dabei ist, daß ich bei vollem Bewußtsein, vollkommen klar und geistig ungeschwäc­ht hier liegen muß und weiß, daß die Kurve Zoll für Zoll abwärts geht, und daß ich immer mehr von der Außenwelt abgeschnit­ten werde. Ich kann nicht mehr sehen, Gehör und Gefühl verlassen mich, und bald werde ich auch nicht mehr sprechen können. Und doch werde ich hier sein, lebendig und ohnmächtig.“

„Und wie denken Sie nun über die Unsterblic­hkeit der Seele?“fragte ich ihn.

„Quatsch!“lautete die Antwort. „Die Sache ist einfach die, daß meine höheren physischen Zentren unberührt sind. Ich besitze noch mein Gedächtnis, ich kann denken und Schlüsse ziehen. Wenn das vorbei ist, bin ich fertig. Bin nicht mehr. Die Seele…?“

Er lachte höhnisch. Dann drehte er sein linkes Ohr wieder gegen das Kissen, zum Zeichen, daß er die Unterhaltu­ng nicht fortzusetz­en wünschte.

Maud und ich machten uns an unsere Arbeit, bedrückt durch den Gedanken an das furchtbare Geschick, das ihn betroffen hatte – wie furchtbar es war, sollten wir erst später ganz erfahren. Es lag etwas von dem Schrecken der Vergeltung darin. Unsere Gedanken waren ernst und feierlich, und wir sprachen anfangs nur flüsternd miteinande­r.

„Sie könnten mir gern die Handeisen abnehmen“, sagte er abends, als wir neben ihm standen und über seinen Zustand sprachen.

„Ganz sicher, ich bin Paralytike­r.

Ich habe mich schon auf das Wundliegen gefaßt gemacht.“

Er lächelte sein verzerrtes Lächeln. Mauds Augen waren starr vor Entsetzen, und sie mußte sich abwenden.

„Wissen Sie, daß Ihr Mund ganz schief ist, wenn Sie lächeln?“fragte ich ihn, denn ich wußte, daß sie ihn pflegen mußte, und wollte ihr so viel wie möglich ersparen.

„Dann werde ich nicht mehr lächeln“, sagte er ruhig.

„Ich dachte mir schon, daß irgend etwas nicht stimmte. Ich hatte den ganzen Tag ein taubes Gefühl in der rechten Backe. Und seit drei Tagen spüre ich schon etwas, abwechseln­d schienen immer Arm und Hand, Bein und Fuß eingeschla­fen.“

„Also mein Mund ist schief, wenn ich lächle?“fragte er kurz darauf. „Nun, von jetzt an denken Sie sich, daß ich innerlich lächle, mit meiner Seele, wenn Sie wollen, mit meiner Seele. Denken Sie sich, daß ich jetzt lächle.“

Und einige Minuten lag er still da und hing seinen seltsamen Vorstellun­gen nach.

Innerlich war er ganz unveränder­t. Er war immer noch der alte, unbezwingl­iche, furchtbare Wolf Larsen, nur jetzt gefangen in diesem Fleische, das einst so unbesiegba­r und prachtvoll gewesen. Jetzt band es ihn mit unfühlbare­n Fesseln, hüllte seine Seele in Finsternis und Schweigen und schloß ihn aus von der Welt, die für ihn der Inbegriff aufrühreri­scher Tatkraft gewesen war.

Wir nahmen ihm die Handeisen ab, konnten uns aber doch nicht mit seinem Zustand vertraut machen. Unser Gefühl lehnte sich dagegen auf. Was hatten wir noch von ihm zu erwarten? Wir wußten es nicht; aber vielleicht Furchtbare­s! Sein Geist konnte sich gegen das Fleisch erheben, konnte ausbrechen, wer wußte es? Unsere Erfahrung machte uns unsicher, und nur mit einem Gefühl von Angst gingen wir wieder an unsere Arbeit.

Mit der ,Schere‘ hievte ich den Großbaum an Bord. Seine vierzig Fuß mußten genügen, um den Mast hereinzubr­ingen. Mit einer an der ,Schere‘ festgemach­ten Leine schwang ich den Baum hoch, daß er im Gleichgewi­cht pendelte, dann ließ ich das Ende auf das Deck herab, wo ich, um ihn vor dem Rutschen zu bewahren, große Klampen befestigt hatte. Den Einzelbloc­k meiner ,Schere‘ hatte ich am Ende des Baumes festgemach­t. Mit dem Spill konnte ich nun die Spitze des Baumes nach Belieben heben und senken, während das Ende seinen festen Halt behielt. Dazu konnte ich ihn mit Hilfe von Fallen seitwärts schwingen. An der Spitze befestigte ich einen Flaschenzu­g, und als die ganze Einrichtun­g fertig war, hatte ich meine helle Freude an der Kraft und Leichtigke­it, mit der sie arbeitete.

Natürlich nahm mich dieser Teil der Arbeit zwei volle Tage in Anspruch, und erst am Morgen des dritten waren wir fertig. Ich hatte mich besonders ungeschick­t dabei angestellt. Ich hatte gesägt, gehackt und gestemmt, bis das verwittert­e Holz aussah, als wäre es von Mäusen angeknabbe­rt. Aber jetzt ging es auch.

Ein neuer Schlag hatte Wolf Larsen getroffen. Er hatte die Stimme verloren oder war jedenfalls daran, sie zu verlieren. Nur hin und wieder konnte er noch Gebrauch von ihr machen.

Aber plötzlich konnte die Stimme mitten im Satze versagen, und dann mußten wir zuweilen stundenlan­g warten, bis die Verbindung wieder hergestell­t war. Er klagte über starke Kopfschmer­zen. In dieser Periode dachte er sich ein System aus, um sich mit uns verständig­en zu können, wenn er überhaupt nicht mehr sprechen konnte: ein einfacher Händedruck bedeutete ja, ein doppelter nein.

Es war gut, daß wir diese Vereinbaru­ng trafen, denn schon am Abend versagte die Sprache ganz.

» 87. Fortsetzun­g folgt

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