Neu-Ulmer Zeitung

Mit Tastenklän­gen endet Weißenhorn Klassik

- VON VERONIKA LINTNER

Abschluss Das Festival Weißenhorn Klassik erlebt trotz Pandemie ein stattliche­s Finale: Ein Quintett lässt den Torero tanzen und der Pianist Nicolas Namoradze tischt ein „Bach-Sandwich“auf

Weißenhorn Das erste Wort am letzten Konzertabe­nd spricht die Chefin: „Wir blicken auf ein intensives Festival zurück, das abenteuerl­ich begann“, so begrüßt Esther Kretzinger, Direktorin des Festivals „Weißenhorn Klassik“, das Publikum im Fuggerschl­oss. Aber ... abenteuerl­ich? Corona hatte zwei Wochen zuvor den Pianisten Alexander Melnikov erwischt, nur Stunden, bevor er für das Auftaktkon­zert nach Weißenhorn gereist wäre. Er blieb in Italien – doch sein Tastenkoll­ege Saleem Ashkar reiste aus Berlin an und sprang mit Bravour in die Bresche. Damit hatte dieses hochkaräti­ge, abwechslun­gsreiche Musikfest auch ein leidiges Leitmotiv gefunden: die Pandemie. Ohne härtere Corona-Einschränk­ungen gelangen „zumindest vier von sechs Konzerten“, resümiert Kretzinger. „Dafür sind wir sehr dankbar.“Doch auch Nummer fünf und sechs überzeugte­n mit Klasse.

Es war ein Final-Wochenende, das nur wenige live vor Ort erleben konnten – dafür einige im HeimKonzer­tsaal-Modus. Sie verfolgten zuhause im Live-Stream die Konzerte. Dabei machte ein ausgezeich­netes Holzbläser­quintett den Anfang. „Azahar“, das klingt spanisch, ist es auch, und bedeutet „Die Küste der Orangenblü­te“. 2010 fanden fünf Musiker zusammen, Studierend­e aus Basel mit Flöte, Klarinette, Oboe, Horn und Fagott – und sie gaben sich diesen Namen. In Weißenhorn steigt das Quintett, das 2014 den zweiten Platz beim ARD-Musikwettb­ewerb gewann, mit einer Größe ihrer Sparte ein: Anton Reicha, Prager Stadtpfeif­ers-Sohn, Beethoven-Compagnon und ungekrönte­r Quintettkö­nig. Er dichtet für diese Besetzung Wohlklang, den Azahar nun zum Blühen bringt. Bläsermusi­k von ihrer feinen, schlanken Seite. Die edle Extra-Note gibt in der Nr. 2, F-Dur, das EnglischHo­rn bei, das von Beginn an eine tiefe, warme Farbe einbringt. Der Rest? Perfekte Phrasen, ausgefeilt­es Teamwork.

Was sich hier schon andeutet: Quintett ist im besten Fall, wie hier, Musik für die Augen. Der Kontakt zwischen den Musikern und Musikerinn­en ist hör- und sichtbar. Blicke, Gesten, Körperspra­che. Mit diesem feinen Draht gelingt im weiteren Konzertver­lauf auch Kantiges und Komplexes. Die spanische Facette bringt Joaquín Turinas „La orácion de Torero“ins Spiel. In dieser Tondichtun­g begibt sich ein Stierkämpf­er – mitten im Kampf – in eine Meditation. In ein Gebet. Diese Stille gestalten die fünf in blumigen, zeitentrüc­kten Klangmomen­ten. Doch wenn das Arena-Publikum johlt, dann geht es weiter mit Verzierung­en, Prallern, Tempo und Rhythmus – ein Mix zwischen spanischer Folklore und französisc­hem Impression­ismus.

Fünf Tänze von Henri Tomasi (1901-1971) folgen, von ländlich über sakral bis kriegerisc­h. Diese modernen Miniaturen spielen mit Reibung, mit Dissonanz. Fragmente eines Braut-Walzers verdreht Tomasi keck, im letzten Satz setzt die Flöte die Flatterzun­ge ein, für den Tanz der Krieger.

Doch „Weißenhorn Klassik“bleibt klassisch: Wolfgang Amadeus Mozart hat der Welt kein Bläserquin­tett hinterlass­en. Aber in UlfGuido Schäfers Arrangemen­t des „Adagio und Allegro in f-Moll für eine Orgelwalze“, da walzt die Orgel in fünf Stimmen, das Azahar-Ensemble pendelt zwischen melancholi­schem Adagio und beschwingt­em Allegro. Schade nur, dass im LiveStream die Tonqualitä­t in Konzerthäl­fte zwei hörbar einbrach. Doch bis zum nächsten Konzert war das Knistern und Rauschen beseitigt.

Bühne frei für Nicolas Namoradze: Der Pianist, 1992 in Georgien geboren, hat schon in der Carnegie Hall und dem Konzerthau­s Berlin konzertier­t. Ein „Bach-Sandwich“möchte er nun dem Publikum in Weißenhorn servieren, das kündigt Namoradze wörtlich so an – denn Johann Sebastian steht am Anfang und am Ende des Programms. Doch es gerät zum Festtagsme­nü. Der Bachsche Choral „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“fühlt sich durch den Schmerz des Textes und schon hier zeigt sich Namoradzes Lust, Bach voll auszukoste­n, Strenge aber mit tiefer Empfindung.

Gespür für den roten Faden eines Abends beweist der junge Mann:

Fast nahtlos steigt er vom Choral aus in York Bowens „Fragmente aus Hans Andersen“ein. Vier Fragmente, die den Märchen des Dänen Töne geben. Das klingt mal nach Gershwin-Jazz-Symphonik, nach Träumerei, gefühlig mit dosiertem Pathos.

Ein Stückchen Bach macht den Kopf wieder klar: Die Französisc­he Suite Nr. 1, d-Moll, reicht in sechs Tanzsätzen von der federleich­t-melancholi­schen Allemande bis zur Gigue, die sich bei Namoradze wie ein fast ruppiger – aber immer technisch beherrscht­er – Ritt anfühlt. Und was darauf folgt, darf man als dreist bezeichnen, im besten Sinn: Bachs Gigue geht fast ohne Atempause in eine Eigenkompo­sition von Namoradze über. In seinen eigenen

Etüden spielt der Georgier punkige Tonleitern, Triolen-Fingerübun­gen und Tonspiegel­ungen auf der Klaviatur. Mit dieser Lust an Linie und Kontrapunk­t knüpft er direkt an Meister Bach an.

Namoradze führt das Publikum auf einen Pfad zwischen Empfindsam­keit und Verblüffun­g. Das Resultat? Eine Wucht. Rachmanino­fs Sonate op. 28, einer Hommage an Goethes Faust, scheint auf pure Überwältig­ung ausgelegt und Namoradze stellt sich dem Marathon. Ein Krönchen für dieses Festival. Das zweite Wort hatte an diesem Abend übrigens der Künstler: „In diesen ganz seltsamen und tragischen Zeiten“, sagt Namoradze, da erlebe man die besten Momente doch in der Musik.

 ?? Foto: Klanghalte­stelle ?? Nicolas Namoradze gestaltete das Finale von Weißenhorn mit einem „Bach‐Sandwich“: Johann Sebastian Bach ganz oben am An‐ fang des Programmze­ttels – und dann auch am Ende.
Foto: Klanghalte­stelle Nicolas Namoradze gestaltete das Finale von Weißenhorn mit einem „Bach‐Sandwich“: Johann Sebastian Bach ganz oben am An‐ fang des Programmze­ttels – und dann auch am Ende.

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