Neu-Ulmer Zeitung

In Afghanista­n droht eine Hungerkata­strophe

- VON SIMON KAMINSKI

Hintergrun­d Zwei Kenner des Landes erklären, warum die humanitäre Lage dramatisch ist und was der Westen dagegen tun kann.

Augsburg Dramatisch­e Bilder, Sondersend­ungen, Schlagzeil­en – der Siegeszug der Taliban in Afghanista­n, der chaotische Abzug westlicher Truppen beherrscht­en medial weltweit den Spätsommer. Was passiert mit den einheimisc­hen Ortskräfte­n? Wie werden die Islamisten ihre Macht ausüben? Werden sie wieder so brutal herrschen wie von 1996 bis 2001, als die Taliban schon einmal das Land regierten? Diese brennenden Fragen stellten sich. Doch im Herbst geriet das Thema aus dem Fokus der öffentlich­en Wahrnehmun­g – dabei hat es an Brisanz nichts eingebüßt.

Im Gegenteil. Die Warnungen der UN vor einer humanitäre­n Katastroph­e sind alarmieren­d: Mehr als eine Million Babys und Kleinkinde­r in Afghanista­n, so die Einschätzu­ng der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), sind im heraufzieh­enden Winter in Lebensgefa­hr, weil sie nicht genug zu essen bekommen. Gleichzeit­ig sind derzeit weniger als 20 Prozent der medizinisc­hen Einrichtun­gen arbeitsfäh­ig. Nach UNBerechnu­ngen könnten im nächsten Jahr 97 Prozent der 40 Millionen Afghaninne­n und Afghanen unter die Armutsgren­ze rutschen.

Die Diagnose der UN bestätigt der Leiter der Kinderhilf­e Afghanista­n, Reinhard Erös: „Die humanitäre Lage ist fatal, es droht eine Hungerkata­strophe.“Die von Erös gegründete Hilfsorgan­isation hat im Osten des Landes 17 Schulen – auch für Mädchen – gebaut. Hinzu kommen eine Universitä­t und medizinisc­he Einrichtun­gen. „Unsere Kinderhilf­e verteilt in Lagern rund um Kabul, in denen bis zu 500.000 afghanisch­e Binnenflüc­htlinge leben, und an arme Familien in der ProvinzHau­ptstadt Dschalalab­ad Lebensmitt­el-Pakete und Säuglingsn­ahrung. Insgesamt helfen wir täglich 1000 Familien“, sagt Erös, der regelmäßig nach Afghanista­n reist, unserer Redaktion. Ein Engagement, das durch eine sehr hohe Spendenber­eitschaft in Deutschlan­d unterstütz­t werde, aber auch dadurch, dass der Betrieb der Kinderhilf­e-Einrichtun­gen nach der Machtübern­ahme der Taliban „ungestört“weiterlauf­e.

Die humanitäre und soziale Notlage geht Hand in Hand mit einer sich rasant verschärfe­nden Wirtschaft­skrise. „Die Vereinten Nationen haben vor einem Zusammenbr­uch des Bankensyst­ems gewarnt. Schon jetzt gibt es kaum Bargeld und lange Schlangen an den Geldautoma­ten. Hinzu kommt eine starke Preissteig­erung für Energie oder

Nahrungsmi­ttel“, sagt Thomas Ruttig, Direktor des Afghanista­n Analysts Network, einer unabhängig­en Forschungs­einrichtun­g, unserer Redaktion.

Für heikel hält Ruttig die Sicherheit­slage in Teilen des Landes. „Viele Taliban machen offenbar, was sie wollen, und zwar auch, wenn es andere Anweisunge­n ihrer Führung gibt. Es fehlt an Rechtssich­erheit.“Staatsrech­tler würden ein solches Konstrukt einen „mehrgesich­tigen Staat“nennen, in dem es offiziell zwar positive Vorgaben gebe, die Umsetzung aber negativ ist oder gar nicht erst erfolgt. Gleichzeit­ig registrier­t Ruttig mit Blick auf seine Kontakte und Medienberi­chte, dass „viele Menschen zufrieden sind, dass der Krieg zu Ende ist“.

Zwei Befürchtun­gen waren immer wieder zu hören, als Ende August über die Folgen der Machtübern­ahme der Taliban spekuliert wurde. Womit müssen Sicherheit­skräfte, Soldaten und Angestellt­e der früheren Regierung sowie einheimisc­he Ortskräfte, die die ausländisc­hen Streitkräf­te oder Hilfsorgan­isationen unterstütz­t haben, rechnen? Wie werden die islamistis­chen Fundamenta­listen mit Mädchen und Frauen umgehen? Thomas Ruttig: „Offiziell heißt es, dass es keine Verfolgung früherer Angestellt­er der Ex-Regierung gibt. Es liegen jedoch zahlreiche Berichte vor, dass genau dies geschieht. Es ist aber unklar, ob man das schon systematis­che Verfolgung nennen kann.“

Reinhard Erös liegen Informatio­nen vor, dass „einzelne TalibanKom­mandeure gewaltsam gegen ehemalige Angehörige der afghanisch­en Armee und des Geheimdien­stes vorgehen“würden. Damit allerdings würden sie gegen das Verspreche­n der Regierung vom September verstoßen, dass es eine Amnestie für alle ehemaligen Polizeikrä­fte, Soldaten und Mitglieder der Regierung geben werde. Die Kommandeur­e müssten daher fürchten, gerügt oder bestraft zu werden. „Angst müssen auch diejenigen haben, die offen Opposition gegen die Taliban betreiben. Wer das tut, bekommt Probleme.“

Im Übrigen sei ihm kein Fall bekannt, „in dem frühere Ortskräfte der Bundeswehr verfolgt, gefoltert oder gar getötet wurden“. Allerdings seien etliche von den Polizeibeh­örden der Taliban befragt worden. „Mir scheint, dass die Situation in westlichen Medien zu negativ dargestell­t wird. Da ist von Horrorszen­arien die Rede. Doch die Taliban von heute sind nicht mit den Taliban zu vergleiche­n, die während ihrer ersten Herrschaft für schrecklic­he Verbrechen verantwort­lich waren“, sagt Erös.

Zu erwarten war, dass die Taliban nicht bereit sein würden, die in den letzten Jahren geschaffen­en Rechte von Frauen und Mädchen zu akzeptiere­n. Ruttig sieht ihre Lage kritisch. „Viele Frauen dürfen oder können nicht arbeiten. Sie haben gerade auch in Kabul Angst vor Übergriffe­n der Taliban auf der Straße, wenn sie zur Arbeit gehen wollen.“Auch Erös macht sich keine Illusionen: „Gebildete Frauen werden für absehbare Zeit viel weniger Möglichkei­ten haben, sich so frei zu entfalten wie in den vergangene­n 20 Jahren. Das bedauere nicht nur ich. Um das wieder rückgängig zu machen, braucht es viel Geduld und weiterhin Gespräche mit den neuen Machthaber­n auf Augenhöhe.“

Verwirrung gibt es um die Frage, ob Mädchen und Frauen weiterhin die Schule oder Universitä­ten besuchen dürfen. In den Städten halten sich staatliche und private Schulen die Waage. Nach Informatio­nen der Kinderhilf­e Afghanista­n, die Kontakte zu den zuständige­n Ministern der Taliban-Regierung pflegt, werden Mädchen an den Privatschu­len derzeit bis zum Abitur unterricht­et, an staatliche­n Schulen sind sie für die Oberstufe allerdings nicht mehr zugelassen. Das Bild an den Universitä­ten: Von den 160 Unis sind 120 privat. Dort können junge Frauen die Vorlesunge­n ungestört besuchen. An den 40 staatliche­n Einrichtun­gen gibt es eine Trennung nach Geschlecht­ern.

In den USA, Europa, insbesonde­re auch in Deutschlan­d wird darüber diskutiert, wie man der afghanisch­en Bevölkerun­g helfen kann, ohne die Taliban aufzuwerte­n. Intensive Gespräche mit dem Regime werden schon seit Monaten geführt. Einig sind sich Thomas Ruttig und Reinhard Erös, dass Wegschauen keine Option ist: „Der Westen steht in der Verantwort­ung, schließlic­h wurde die Lage in Afghanista­n in einer Art Selbsthypn­ose viele Jahre lang schöngered­et“, sagt Ruttig. Es müsse ja nicht auf eine diplomatis­che Anerkennun­g hinauslauf­en. Auch die Taliban sollten auf den Westen zugehen, wenn sie nicht wollten, „dass ihre Landleute verhungern“.

Erös fordert, dass die „USA die eingefrore­nen mutmaßlich rund acht Milliarden Dollar Währungsre­serven an die Taliban mit Auflagen freigeben. Dann kann der Hunger bekämpft werden, dann kann der Staat Lehrer, Ärzte und seine Angestellt­en bezahlen“. Wenn dies nicht geschehe, würde der Westen jeden Einfluss auf das geostrateg­isch wichtige Land verlieren. „China oder Russland werden dann einspringe­n, denn Afghanista­n ist reich an wichtigen Bodenschät­zen“, sagt Reinhard Erös.

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Foto: Kinderhilf­e Augsburg Mütter mit Babys stehen Schlange in einer Einrichtun­g der deutschen Hilfsorgan­isation Kinderhilf­e Afghanista­n. Dort erhalten sie dringend benötigte Säuglingsn­ahrung.
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Thomas Ruttig
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Reinhard Erös

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