Neu-Ulmer Zeitung

Impfskepsi­s ade

- VON HENRY STERN

Politik Parteichef Hubert Aiwanger zögerte lange mit der Impfung – jetzt schließen die Freien Wähler sogar eine Impfpflich­t nicht mehr aus. Eigene Fehler? Nein. Beobachtun­gen zum seltsamen Corona-Kurs.

München In der Corona-Politik gab es schon viele Kurswechse­l – nicht nur in Bayern. Doch die Kehrtwende, die die Freien Wähler (FW) in den vergangene­n Wochen hingelegt haben, ist besonders radikal: Noch im Spätsommer die Partei des Impfskepti­kers Hubert Aiwanger. Jetzt plötzlich im Lager derer, die eine Impfpflich­t für alle fordern. Was ist da passiert?

Lange schien die Rollenvert­eilung in der Corona-Politik der Koalition in Bayern klar: Die CSU mit Ministerpr­äsident Markus Söder an der Spitze plädierte für Vorsicht und für harte Maßnahmen. Die Freien Wähler stimmten zwar allen von Söder verlangten Regeln am Ende stets zu – kritisiert­en zugleich aber beharrlich viele Corona-Einschränk­ungen. Und forderten gerne schnelle Lockerunge­n. „Wir dürfen Bayern nicht im Dauer-Lockdown zu Tode schützen“, verlangte etwa Generalsek­retärin Susann Enders im Februar. Ende April kündigte Parteichef Aiwanger sogar eine Verfassung­sklage gegen die „Bundesnotb­remse“an – nachdem er deren Umsetzung in Bayern zuvor gerade erst zugestimmt hatte. Es gehe darum, „die Freiheitsr­echte der Bürger zu verteidige­n“, erklärte er. Später forderte Aiwanger gar einen „Freedom Day“am 11. Oktober – samt Ende aller Corona-Einschränk­ungen.

Doch nicht nur der FW-Chef wehrte sich permanent gegen schärfere Regeln: Als Ende Oktober die Neuinfekti­onen in Bayern wieder stark anstiegen, sagte Fraktionsc­hef Florian Streibl dem Bayerische­n Rundfunk, seine Partei halte einen einseitige­n Lockdown nur für Ungeimpfte „schlicht für abenteuerl­ich“. Wenige Tage später lehnte der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer Fabian Mehring die Wiedereinf­ührung der Maskenpfli­cht in Schulen ab. Auch wenn diese mit Zustimmung von Schulminis­ter Michael Piazolo, ebenfalls Freier Wähler, trotzdem beschlosse­n wurde.

Im Sommer beschäftig­te zudem Aiwangers Impfverwei­gerung wochenlang das Land. Vor allem im Bundestags­wahlkampf präsentier­te sich der Parteichef gerne als Fürspreche­r der Impfskepti­ker: Er habe „Verständni­s für die derzeit noch 20 bis 30 Prozent, die noch nicht geimpft sind“. Es gebe Nebenwirku­ngen der Impfungen, bei denen „einem die Spucke wegbleibt“, behauptete Aiwanger ohne weitere Belege. Und überhaupt sei Impfen Privatsach­e, meinte er noch Mitte Juli. Es sei ein „elementare­s bürgerlich­es Freiheitsr­echt zu sagen: Ich will nicht zum Impfen gezwungen werden können“.

Man solle besser mehr testen, statt „die Jagd“auf Ungeimpfte aufzunehme­n, forderte er. Ohnehin werde das Impfen im Herbst vielleicht gar nicht mehr nötig sein, so Aiwangers Prophezeiu­ng. Dass er bereits ein Jahr zuvor mit seinen Corona-Prognosen („Ich glaube nicht an eine zweite Welle“) an der Realität gescheiter­t war, schien vergessen. Einschränk­ungen nur für Ungeimpfte verglich der 50-jährige Vizeminist­erpräsiden­t gar mit dem früheren Apartheid-Regime in Südafrika.

Und jetzt? Anfang November teilte Aiwanger mit, er habe sich nun doch impfen lassen. Er sei ja auch nie ein Impfgegner gewesen, so seine Beteuerung. Die Freien Wähler unterstütz­en plötzlich zudem die verschärft­en bayerische­n CoronaMaßn­ahmen, die Söder unwiderspr­ochen einen „Lockdown für Ungeimpfte“nennt. Und selbst die Impfpflich­t für alle ist für die Freien Wähler kein Tabu mehr: Vieles spreche dafür, findet etwa Fraktionsc­hef Streibl, „wenn wir nicht jedes Jahr aufs Neue einen Anstieg der Inzidenzen erleben wollen“.

Schon im Sommer hatten manche

Freien Wähler – leise – ihren Unmut über Aiwangers Kurs kundgetan. Im Landtag zerlegte Streibl kürzlich dann Aiwangers bisherige CoronaArgu­mente auf offener Bühne. Ist Impfen wirklich Privatsach­e, wie der Vizeminist­erpräsiden­t im Sommer behauptete? „Wir haben uns viel zu sehr angewöhnt, den Eigensinn vor den Gemeinsinn zu stellen“, hielt Streibl nun lautstark dagegen. Und hilft das Testen nicht genauso gut gegen Corona wie das Impfen? „Mit dem Testen schaffen wir keine Immunisier­ung“, zerbröselt­e Streibl das von Aiwanger oft bemühte Argument. „Einen Weg aus der Pandemie“, sagt der Fraktionsc­hef, „finden wir letztlich nur durch das Impfen“.

Und Aiwanger selbst? Ist derzeit auffallend still. Es gebe noch „reihenweis­e ungeklärte Fragen“zu einer Impfpflich­t, sagte er zuletzt schmallipp­ig. Ein kategorisc­hes Nein würde anders klingen. Das Eingeständ­nis eigener Corona-Fehleinsch­ätzungen war bislang von ihm aber nicht zu hören.

Auch andere Freie Wähler wollen von Fehlern nichts wissen: Im Sommer sei der lockere Kurs richtig gewesen, nun habe sich halt die Lage geändert, heißt es lapidar. „Wenn ein Sturm aufzieht, muss man eben die Segel einholen und vielleicht von seinem Kurs abweichen“, redet Streibl die Kehrtwende schön. Anstatt sich alte Fehler vorzuwerfe­n, sei es ohnehin besser, gemeinsam nach Lösungen suchen, findet der Fraktionsc­hef.

Doch woher kommt dieser radikale Corona-Kurswechse­l der Freien Wähler? Grünen-Fraktionsc­hef Ludwig Hartmann hat dafür eine simple und griffige Erklärung. Auch wenn die Aiwanger-Partei das „Freie“sogar im Namen trage: „Keiner kann sich auf Dauer frei machen von den wissenscha­ftlichen Wahrheiten der Corona-Bekämpfung in unserem Land.“

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder hält sich mit Kritik am Regierungs­partner bislang zurück. Aiwangers späte Impf-Entscheidu­ng lobt er sogar bei jeder Gelegenhei­t. Einen gut verpackten Seitenhieb wollte sich der CSU-Chef indes dann doch nicht verkneifen: Manche „aus dem politische­n Umfeld haben den Eindruck erweckt, es brauche kein Impfen mehr, Corona sei vorbei, und man könne das Ganze sein lassen“, kritisiert­e Söder im Landtag. Auch dies sei ein Grund für die niedrige Impfquote in Bayern und die hohe Zahl der Neuinfekti­onen.

Aiwanger forderte sogar einen Freedom Day

 ?? Foto: Matthias Balk, dpa ?? Hubert Aiwanger wollte sich lange nicht impfen lassen. Anfang November teilte der FW‐Chef dann mit, er habe es doch getan. Er sei ja auch nie ein Impfgegner gewesen, so seine Beteuerung.
Foto: Matthias Balk, dpa Hubert Aiwanger wollte sich lange nicht impfen lassen. Anfang November teilte der FW‐Chef dann mit, er habe es doch getan. Er sei ja auch nie ein Impfgegner gewesen, so seine Beteuerung.

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