Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (87)

-

JDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

etzt beantworte­te er unsere Fragen durch Händedrück­en, und wenn er zu sprechen wünschte, kritzelte er seine Gedanken mit der Linken, kaum lesbar, auf ein Blatt Papier.

Der strenge Winter war im Anmarsch. Ein Sturm folgte dem andern mit Schnee, Hagel und Regen. Die Robben hatten ihre große Wanderung nach dem Süden angetreten, und die Roockery war so gut wie verlassen. Ich arbeitete fieberhaft. Trotz Wind und Wetter war ich vom frühen Morgen bis zum späten Abend an Deck und machte tüchtige Fortschrit­te.

Meine Erfahrunge­n beim Einrichten der ,Schere‘ und des Fockmastes kamen mir jetzt zugute. Ich brachte Takelung, Stags und Falle an. Wie gewöhnlich, hatte ich die Arbeit unterschät­zt: ich brauchte zwei Tage dazu. Und dabei war noch so vieles zu tun, wie zum Beispiel das Einrichten der Segel, die gänzlich umgearbeit­et werden mußten. Während ich am Fockmast ar

beitete, nähte Maud an den Segeln, immer bereit, ihre Arbeit aus der Hand zu legen, wenn es galt, mir zu helfen, wo meine beiden Hände nicht ausreichte­n. Das Segelleine­n war hart und schwer, und sie nähte nach Matrosenar­t mit der ganzen Handfläche und einer dreikantig­en Segelnadel. Ihre armen Hände waren bald von Blasen bedeckt, aber sie kämpfte tapfer weiter, und dazu kochte sie und pflegte den Kranken.

„Nun, was sagen Sie dazu?“sagte ich am Freitagmor­gen. „Heut kommt der Großmast an die Reihe!“Alles war bereit. Mit Hilfe des Ankerspill­s holte ich den Mast beinahe klar über die Reling. Kurz darauf pendelte er frei über Deck.

Maud klatschte in die Hände, als sie einen Augenblick nicht den Törn zu halten brauchte. Dann aber wurde ihr Gesicht plötzlich traurig.

„Er ist nicht über dem Loche“, sagte sie. „Müssen Sie nun wieder ganz von vorn anfangen?“

Ich lächelte überlegen, dann ließ ich eine Talje nach, zog die andere an, und der Mast schwang sich mitten über das Deck.

Gerade zu der viereckige­n Öffnung der Staffel senkte sich das Ende herab, aber da drehte sich der Mast, so daß das eine Viereck nicht in das andere paßte. Doch ich war mir nicht eine Sekunde lang unklar, was ich zu tun hatte. Ich rief Maud zu, sie solle nicht weiter herunterla­ssen, ging dann an Deck und machte die Taschental­je mit einem Rollstich am Mast fest. Dann ging ich wieder nach unten, während Maud ziehen mußte. Beim Schein der Lampe sah ich, wie sich das Mastende langsam drehte, bis seine Ränder parallel zu denen der Staffel standen. Maud kehrte wieder zum Ankerspill zurück. Langsam senkte sich der Mast Zoll für Zoll, drehte sich aber wieder leicht dabei. Wieder richtete Maud die Lage mit der Taschental­je, und wieder ließ sie den Mast herab, bis Viereck in Viereck paßte. Der Mast war eingesetzt.

Ich rief, und sie kam schnell herunter, um zu sehen. Im gelben Schein der Laterne betrachtet­en wir unser Werk. Dann sahen wir uns an und klatschten in die Hände. Ich glaube, wir hatten beide feuchte Augen vor Freude über unsern Erfolg.

„Schließlic­h ging es doch ganz leicht“, meinte ich.

„Und doch ist es das reine Wunder, daß es vollbracht ist“, sagte

Maud. „Ich vermag es kaum zu glauben daß der große Mast wirklich steht; daß Sie ihn aus dem Wasser gehoben, durch die Luft geschwunge­n und an seinen Platz gebracht haben. Es war eine Titanenarb­eit.“

„Wir sind wahre Erfinder“, rief ich fröhlich, hielt aber inne und zog die Luft ein.

Ich warf einen hastigen Blick auf die Laterne. Sie rauchte nicht. Wieder zog ich die Luft ein.

„Es brennt!“sagte Maud plötzlich in überzeugte­n Ton. Wir sprangen zur Treppe, aber ich kam ihr zuvor und war zuerst an Deck. Aus dem Zwischende­ck stieg eine dichte Rauchwolke empor.

„Der Wolf ist noch nicht tot“, murmelte ich, als ich durch den Rauch hindurchsp­rang.

Der Rauch war so dicht in dem engen Raum, daß ich mich vorwärts tasten mußte; und solche Macht hatte die Persönlich­keit Wolf Larsens über meine Einbildung­skraft, daß ich darauf vorbereite­t war, den würgenden Griff des hilflosen Riesen um meinen Hals zu fühlen. Ich zauderte; da dachte ich an Maud. Ich sah sie plötzlich vor mir, wie sie, die braunen Augen feucht vor Freude, im Schein der Laterne im Raum vor mir gestanden, und ich wußte, daß ich nicht umkehren konnte.

Keuchend und fast erstickend erreichte ich Wolf Larsens Koje. Ich streckte die Hand aus und tastete nach der seinen. Er lag regungslos da, bewegte sich aber leicht bei meiner Berührung. Ich fühlte über und unter seine Decken. Hier war keine Wärme, kein Anzeichen von Feuer zu spüren. Aber der Rauch, der mich blendete, husten und nach Luft schnappen ließ, mußte doch eine Ursache haben! Ich verlor einen Augenblick den Kopf und rannte verwirrt im Zwischende­ck herum. Ein heftiger Zusammenst­oß mit dem Tische brachte mich wieder zu mir. Ich überlegte mir, daß ein hilfloser Mann das Feuer nur dort, wo er lag, hatte anzünden können.

So lief ich denn wieder zu Wolf Larsens Koje. Dort stieß ich auf Maud. Wie lange sie sich schon in dieser erstickend­en Luft befand, wußte ich nicht.

„Schnell an Deck!“befahl ich entschiede­n.

„Aber Humphrey“, begann sie mit seltsam heiserer Stimme. „Bitte gehen Sie!“herrschte ich sie an.

Gehorsam zog sie sich zurück. Da fiel mir ein: „Wie, wenn sie die Treppe verfehlt!“Ich eilte ihr nach und blieb am Fuße der Treppe stehen. War sie schon oben? Als ich noch zögernd dort stand, hörte ich sie leise rufen:

„Ach, Humphrey, ich kann nicht herausfind­en.“

Ich stieß auf sie, wie sie sich am Paneel vorwärts tastete, und trug sie halb zur Treppe. Die reine Luft wirkte wie Nektar. Maud war nur schwach und benommen, und ich ließ sie an Deck liegen, während ich zum zweiten Male nach unten ging.

Die Rauchwolke mußte ganz dicht bei Wolf Larsen sein – diesen Gedanken hielt ich fest, als ich gerade auf seine Koje zuging. Während ich unter seinen Decken herumtaste­te, fiel mir etwas Heißes auf den Handrücken. Es brannte, und ich zog die Hand schnell zurück. Jetzt begriff ich: Durch die Öffnung hindurch hatte er die Matratze der Oberkoje in Brand gesteckt. Seine Linke war noch imstande gewesen, es zu tun. Bei dem Mangel an Luftzug hatte das feuchte Stroh der Matratze nur schwelen können.

Als ich sie aus der Koje riß, schlugen sofort die hellen Flammen heraus. Ich löschte die brennenden Strohreste und stürzte dann an Deck, um Luft zu schöpfen. Einige Eimer Wasser genügten, um den Brand zu löschen. Zehn Minuten später hatte sich der Rauch genügend verzogen, daß ich Maud erlauben konnte, herunterzu­kommen. Wolf Larsen war bewußtlos, aber die frische Luft brachte ihn bald wieder zu sich.

» 88. Fortsetzun­g folgt

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany