Neu-Ulmer Zeitung

Kurz macht den Weg frei

- VON WERNER REISINGER

Analyse In Österreich steht nach dem Komplett-Rückzug des gescheiter­ten Ex-Kanzlers erneut eine Regierungs­umbildung bevor. Denn auch Nachfolger Schallenbe­rg räumt seinen Posten. Wird Karl Nehammer der neue starke Mann der ÖVP?

Wien Österreich kommt nicht zur Ruhe: So erwartbar der am Donnerstag erfolgte Komplett-Rückzug des gescheiter­ten Ex-Kanzlers Sebastian Kurz für viele Beobachter war, so groß ist die Unsicherhe­it, wie es politisch weitergeht. Mit seiner Rede, in der Kurz seinen Rücktritt von allen politische­n Ämtern bekannt gab, wurde klar: Die Regierung von ÖVP und Grünen steht wieder vor einem fundamenta­len Umbau. Finanzmini­ster und KurzIntimu­s Gernot Blümel hat noch am selben Abend seinen Abschied verkündet – und von einer Reihe weiterer Kurz-treuen Ministerin­nen und Ministern wird das auch gemunkelt.

War zunächst „nur“von einer Rochade in der ÖVP-Ministerri­ege die Rede, so war einige Stunden später jedenfalls klar: Es geht erneut auch um den Chefsessel im Kanzleramt am Wiener Ballhauspl­atz. Schließlic­h stellte zwischen den Abgängen von Kurz und Blümel auch Kanzler Alexander Schallenbe­rg sein Amt zur Verfügung. Damit könnte Karl Nehammer – bisher Innenminis­ter und wie Kurz ein Hardliner etwa in Migrations­fragen – nicht nur dessen ÖVP-Parteivors­itz, sondern auch das Kanzleramt von Schallenbe­rg übernehmen.

„Ich bin der festen Ansicht, dass beide Ämter – Regierungs­chef und Bundespart­eiobmann der stimmenstä­rksten Partei Österreich­s – rasch wieder in einer Hand vereint sein sollten“, sagte Schallenbe­rg zur Begründung. Es sei nie sein Ziel gewesen, die ÖVP anzuführen. Er sei bereit, als Regierungs­chef abzutreten, sobald geklärt sei, wer künftig an die Spitze der „Kanzlerpar­tei“tritt.

Den Auftakt dieses turbulente­n Donnerstag­s in Wien hatte Kurz gesetzt. Den einen entscheide­nden Auslöser, aus seinem kürzlich erfolgten Rücktritt als Kanzler gleich das Ende der ganzen politische­n Karriere zu machen, gibt es für Kurz nicht. Es war wohl eine Kombinatio­n aus mehreren Faktoren: Immer mehr Stimmen aus den ÖVP-geführten Bundesländ­ern, von Landeshaup­tleuten, aber auch aus den Bünden und Teilorgani­sationen der Partei, dürfte der „Schritt zur Seite“, wie das KurzUmfeld im Bund seinen Rückzug genannt hatte, nicht gereicht haben. Zu schlecht war wohl die Perspektiv­e auf ein Comeback angesichts der Korruption­sermittlun­gen wegen Untreue und Bestechlic­hkeit, die noch Jahre dauern werden. Kurz selbst dürfte eingesehen haben, dass seine Karten keine guten sind – die Wirtschaft­s- und Korruption­sstaatsanw­altschaft wirft ihm und seinem engsten Umfeld Bestechung, Bestechlic­hkeit und Untreue in der sogenannte­n Inseraten-Affäre vor. Der offene Bruch einiger der mächtigen ÖVP-Länderchef­s mit ihm und seinem türkisen Parteiproj­ekt dürfte ein Übriges dazu getan haben – zuletzt hielt Kurz nur mehr Niederöste­rreichs Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner die Stange.

Der gefallene Ex-Kanzler und einstige Shooting-Star vieler europäisch­er Konservati­ver nannte für sein Karriereen­de – mit gewohnt geschliffe­ner Rhetorik und schauspiel­erischem Gestus – zwei Gründe: Einerseits sei die „hundertpro­zentige Begeisteru­ng“, mit der er in den letzten zehn Jahren Politik gemacht habe, „etwas weniger geworden“, und zwar aufgrund der Tatsache, dass er „nur mehr mit der Abwehr von Vorwürfen, von Unterstell­ungen, von Verfahren“zu tun hatte. Das sei kein „Wettbewerb der besten Ideen“mehr gewesen, wie er ihm vorschwebe, beteuerte er.

Und schließlic­h habe er durch die Geburt seines Sohnes Konstantin erkannt, dass es noch andere, wichtigere Dinge gebe als die Politik: „So ein Baby kann man ja stundenlan­g ansehen“, so der frisch gebackene Vater. Er will sich erst kommendes Jahr neuen Aufgaben widmen – wohl in der Privatwirt­schaft.

In Summe aber klang die Abschiedsr­ede von Kurz, live übertragen im Fernsehen, eher wie eine Rechtferti­gung: Er selbst sieht sich als „Gejagter“, beteuerte abermals seine Unschuld. Er freue sich darauf, diese irgendwann gegenüber der Justiz beweisen zu können. Er sei „weder Heiliger noch Verbrecher“und natürlich habe auch er Fehler gemacht. Die inhaltlich­e Bilanz seiner Zeit als Kanzler fiel demgegenüb­er eher knapp aus. „Höchstleis­tungen“hätten er und sein Team in den vergangene­n Jahren erbracht, war Kurz sich sicher.

Die mächtigen ÖVP-Landeshaup­tleute können hingegen kaum zufrieden sein mit dem Zustand, in dem sich die ÖVP nun nach Kurz’ komplettem Rückzug befindet: In den Umfragen steht die Partei seit einigen Wochen nur mehr bei rund 20 Prozent, die Sozialdemo­kraten von Pamela Rendi-Wagner liegen voran, und das, obwohl auch in der SPÖ ein Richtungs- und Führungsst­reit schwelt.

Im Jahr 2023 wählen einige Bundesländ­er, darunter auch das für die ÖVP so wichtige Niederöste­rreich, einen neuen Landtag – angesichts der Korruption­sermittlun­gen gegen Ex-Chef Kurz und andere ÖVP

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Foto: photonews.at/Georges Schneider via imago images Abgang der einstigen Ikone vieler Konservati­ver in Europa. Mit nur 35 Jahren verkündet der frühere österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz seinen Ausstieg aus der Politik.

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