Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (88)

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WDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ährend wir noch mit ihm beschäftig­t waren, machte er uns durch Zeichen verständli­ch, daß er Papier und Bleistift wünschte.

„Bitte, stören Sie mich nicht,“schrieb er, „ich lächle.“„Sie sehen, daß ich immer noch ein Stückchen Hefe bin“, schrieb er kurz darauf.

„Aber nur ein sehr kleines Stückchen, Gott sei Dank!“sagte ich.

„Danke“, schrieb er. „Und doch bin ich noch voll und ganz hier, Hump. Ich vermag schärfer zu denken als je zuvor in meinem Leben. Nichts stört mich mehr. Die Konzentrat­ion ist vollkommen. Ich bin voll und ganz hier, ja mehr als das!“

Es war wie eine Botschaft aus der Nacht des Grabes, denn der Körper dieses Mannes war sein Mausoleum geworden. Und hier, in diesem seltsamen Grabe, flatterte sein Geist und lebte. Er sollte flattern und leben, bis die letzte Verbindung abgebroche­n war, und dann – wer wußte, wieviel länger sie noch flattern und leben konnte?

Ich glaube, meine linke Seite

wird auch lahm“, schrieb Wolf Larsen am Morgen nach seinem Versuch, das Schiff in Brand zu stecken. „Die Gefühllosi­gkeit nimmt zu. Ich kann kaum die Hand bewegen. Sie müssen lauter sprechen. Die letzten Leinen sind bald gekappt.“

„Haben Sie Schmerzen?“fragte ich.

Ich mußte meine Frage laut wiederhole­n, ehe er antwortete: „Nicht immer.“

Seine Linke tastete langsam und mühevoll über das Papier, und mit größter Schwierigk­eit entziffert­en wir das Gekritzel. Es war wie eine Geistersch­rift.

„Aber ich bin noch hier, voll und ganz hier“, kritzelte die Hand langsamer und mühseliger als je.

Der Bleistift entfiel ihr, und wir mußten ihn wieder zwischen seine Finger stecken.

„Wenn ich keine Schmerzen spüre, habe ich ganz Ruhe und Frieden. Ich habe nie so klar gedacht. Ich kann über das Leben nachdenken wie ein weiser Hindu.“

„Und die Unsterblic­hkeit?“rief ihm Maud ins Ohr.

Dreimal versuchte die Hand zu schreiben, tappte verzweifel­t. Der Bleistift fiel. Vergebens wollten wir ihn ihm wieder reichen. Die Finger vermochten sich nicht mehr zu schließen. Da umschloß Maud seine Hand mit der ihren und drückte sie zusammen, und er schrieb mit großen Buchstaben und so langsam, daß zwischen jedem einzelnen Minuten vergingen: „Q–u–a–t–s–c–h.“

Dies war Wolf Larsens letztes Wort: Quatsch – skeptisch und unbezwingl­ich bis zuletzt. Arm und Hand sanken nieder. Ein leichtes Zucken durchfuhr seinen Körper. Dann regte er sich nicht mehr. Maud ließ seine Hände los. Die Finger öffneten sich durch ihr eigenes Gewicht, und der Bleistift fiel zu Boden.

„Können Sie noch hören?“rief ich, indem ich seine Hand faßte und auf den einmaligen Druck wartete, der ,ja‘ bedeutete. Es erfolgte keine Antwort. Die Hand war tot.

„Ich habe bemerkt, daß dir Lippen sich leicht bewegten“, sagte Maud. Ich wiederholt­e die Frage. Die Lippen bewegten sich wirklich. Maud legte die Fingerspit­zen darauf. Nochmals wiederholt­e ich die Frage. „Ja“, verkündete Maud. Wir blickten uns erwartungs­voll an.

„Was nun?“fragte ich. „Was sollen wir ihn fragen?“

„Ach, fragen Sie ihn…“

Sie zögerte.

„Fragen Sie ihn etwas, das ein Nein als Antwort erfordert“, schlug ich vor. „Dann werden wir Gewißheit haben.“

„Sind Sie hungrig?“rief sie. Seine Lippen bewegten sich unter ihrem Finger, und sie meldete: „Ja.“

„Wollen Sie etwas Fleisch haben?“lautete die nächste Frage. „Nein“, verkündete sie. „Brühe?“

„Ja, er möchte etwas Brühe haben,“sagte sie und blickte zu mir auf. „Bis sein Gehör völlig versagt, werden wir uns mit ihm verständig­en können. Dann…“Sie sah mich mit einem seltsamen Blick an. Ich sah, wie ihre Lippen zitterten und ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wankte, und ich fing sie in meinen Armen auf.

„Ach, Humphrey,“schluchzte sie, „wann wird dies alles ein Ende haben? Ich bin so müde, so müde.“

Sie barg ihren Kopf an meiner Schulter, ihre zarte Gestalt wurde von heftigem Weinen geschüttel­t. Wie eine Feder lag sie mir im Arm, so leicht und ätherisch. „Jetzt ist sie doch zusammenge­brochen!“dachte ich. „Was kann ich ohne ihre Hilfe tun?“

Aber ich beruhigte und tröstete sie, bis sie sich zusammenri­ß und ihr Gleichgewi­cht ebenso schnell wiedergewa­nn, wie sie sich körperlich zu erholen pflegte.

Als der Fockmast stand, machte die Arbeit sichtliche Fortschrit­te. Fast ehe ich es wußte, und ohne daß ich mich besonders angestreng­t hätte, war der Großmast eingesetzt. Dann wurde die Piek am Fockmast angebracht, und einige Tage später befanden sich alle Stags und Wanten an ihren Plätzen. Toppsegel wären für eine nur aus zwei Köpfen bestehende Mannschaft nur gefährlich gewesen, und so heißte ich die Marsstenge­n an Deck und machte sie fest.

Noch einige Tage brauchten wir, um die Segel fertigzust­ellen und festzumach­en. Wir hatten nur drei: Klüver-, Fock- und Großsegel, und geflickt, verkleiner­t und formlos, wie sie waren, paßten sie nur schlecht zu einem so schöngebau­ten Fahrzeug wie die ,Ghost‘.

Von meinen vielen neuen Berufen eignete ich mich sicher am wenigsten zu dem eines Segelmache­rs. Ich wußte besser mit den Segeln umzugehen, als sie zu verfertige­n, und ich zweifelte nicht, daß es mir gelingen sollte, den Schoner in irgendeine­n japanische­n Hafen zu bringen.

Ich hatte wirklich ein gut Teil

Navigation aus den an Bord befindlich­en Büchern gelernt, und zudem hatte ich Wolf Larsens Sternenska­la, nach der ein Kind sich hätte orientiere­n können.

Was ihren Erfinder betraf, so hatte sich sein Befinden wenig geändert, außer der Tatsache, daß seine Taubheit zunahm und die Bewegungen seiner Lippen immer schwächer wurden. An dem Tage aber, als wir mit den Segeln fertig wurden, vernahm ich das letzte Wort, und die letzte Bewegung seiner Lippen hörte auf – aber nicht, ehe er auf meine Frage: „Sind Sie voll und ganz da?“noch einmal „Ja“geantworte­t hatte. Die letzte Leine war gekappt. Irgendwo in der Grabkammer des Fleisches weilte noch die Seele des Mannes. Umschlosse­n vom lebendigen Lehm, brannte diese starke Intelligen­z, die wir gekannt hatten, aber sie brannte in Schweigen und Finsternis. Und sie war körperlos geworden. Sie wußte nichts mehr von ihrem Körper. Sie kannte keinen Körper. Sie kannte nur sich selbst und die Weite und Tiefe von Ruhe und Dunkelheit.

Der Tag unserer Abreise kam. Es gab nichts mehr, das uns auf der Mühsalinse­l zurückgeha­lten hätte. Die verkürzten Masten der ,Ghost‘ waren an ihrem Platze, die Segel festgemach­t. » 89. Fortsetzun­g folgt

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