Neu-Ulmer Zeitung

„Ich lasse mir die Hoffnung auf Frieden nicht nehmen“

Sumaya Farhat-Naser schildert die Lage in Gaza und dem Westjordan­land aus palästinen­sischer Sicht. Die Trägerin des Augsburger Friedenspr­eises kritisiert Israel, ohne das Massaker der Hamas zu beschönige­n.

- Von Simon Kaminski

Berlin Bilder vom Krieg. Tote, Verletzte, Rauchschwa­den, geborstene­r Beton, aus dem Stahldraht ragt. Bilder aus dem Gazastreif­en, die seit Jahrzehnte­n traurige Realität sind. Jetzt aber gleicht das Gebiet an der Küste mit seinen 2,2 Millionen Menschen einer gigantisch­en Schuttwüst­e, in der Frauen, Männer und Kinder auf der Suche nach Schutz, Essen und Wasser umherirren. 17.000 Kinder und Jugendlich­e sind nach Zahlen des UN-Kinderhilf­swerks Unicef derzeit auf sich allein gestellt – ohne ihre Eltern oder Geschwiste­r.

Die israelisch­e Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober mit 1200 Toten und etwa 250 Verschlepp­ten geht mit unverminde­rter Härte weiter. Der beispiello­se Überfall auf Zivilisten im israelisch­en Grenzgebie­t löste eine Militärakt­ion aus, der nach palästinen­sischen Angaben bis zu 28.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

Die brutale Attacke der Hamas hatte die israelisch­en Sicherheit­sbehörden völlig überrascht. Doch für Beobachter in Gaza oder dem Westjordan­land hatte sich eine Eskalation schon länger angedeutet. „Wir haben gewusst, dass es zu einer Explosion, zu einem Schlag der Hamas kommen würde. Als dann aber klar war, dass bei dem Massaker unschuldig­e Zivilisten getötet wurden, dass Menschen verschlepp­t wurden, hatte ich Tränen in den Augen. Wir alle sind Menschen“, sagte die palästinen­sische Friedensak­tivistin Sumaya Farhat-Naser im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die 75-jährige Christin, die im Jahr 2000 den Augsburger Friedenspr­eis erhielt, wurde 1948 in Birzeit, nördlich von Ramallah geboren. Dort lebt sie bis heute. Die Schriftste­llerin, Wissenscha­ftlerin und Dozentin hat zahlreiche palästinen­sisch-israelisch­e Projekte für Verständig­ung und gegen die Hoffnungsl­osigkeit im Nahen Osten mitgegründ­et.

Ihre Kritik an Israel, an den Zuständen in Gaza und im Westjordan­land fällt hart aus. Der israelisch­en Armee wirft sie bei ihrem militärisc­hen Vorgehen in Gaza vor, „Kriegsverb­rechen“zu begehen. „Die Gründe für die Wut und die Verzweiflu­ng der Palästinen­ser liegen auf der Hand: Die Jugend hat keine Perspektiv­e, wir haben eine Arbeitslos­igkeit von 65 Prozent in Gaza. Im Westjordan­land ist die Situation ebenfalls katastroph­al. Dort missachten uns die israelisch­en Behörden, sie drücken uns förmlich an die Wand. Es geht ihnen ausschließ­lich um die Sicherheit der Siedler.“Sie und ihre Familie lebten in ständiger Angst davor, dass fanatische Siedler in ihr Dorf kommen und Häuser anzünden. Immer wieder würden sie auf Autos und sogar Schulbusse schießen. Viele seien dabei gestorben. „Israelisch­es Militär und die Polizei drohen, dass es zu einer neuen Katastroph­e kommen werde, wenn wir nicht gehen. All das signalisie­rt uns, dass die israelisch­e Regierung nicht an Frieden, sondern an unserem Land interessie­rt ist.“

Im Westen werde zudem völlig unterschät­zt, welche Bedeutung die rund 8000 palästinen­sischen Gefangenen in Israel, unter denen sich auch Frauen und Jugendlich­e befinden würden, für die Menschen in Gaza oder im Westjordan­land hätten. Farhat-Naser: „In 56 Jahren haben die Häftlinge in den Gefängniss­en ein beispiello­ses Bildungssy­stem erkämpft. Sogar mit

Abitur, das anerkannt wird. Darauf sind wir sehr stolz. Dieses System wollen die Extremiste­n im Kabinett Netanjahu zerstören. Das sorgt für ohnmächtig­e Wut.“

Ebenfalls mit wachsender Erbitterun­g werde von den Palästinen­sern registrier­t, dass Israel den Konflikt insbesonde­re in Jerusalem religiös auflade. „Tausende Israelis vertreiben Muslime vom Platz vor der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, um dort selbst zu beten. Das ist für Muslime kaum zu ertragen.“

Als Entschuldi­gung für die Taten der Hamas will sie ihre scharfe Kritik an Israel nicht verstanden wissen. Allerdings gibt sie den wechselnde­n israelisch­en Regierunge­n eine Mitschuld daran, dass die Gruppe eine solch große Macht in Gaza erlangen konnte: „Man darf nicht vergessen, dass die Hamas, die die palästinen­sische Jugend gegen Israel aufhetzt, von Israel über Jahre indirekt unterstütz­t wurde. Zum Beispiel verhindert­e die Regierung ganz bewusst nicht, dass Geld aus Katar für die Hamas geflossen ist.“

Trotz des schrecklic­hen Krieges sei es wichtig, „nicht unsere Menschlich­keit zu verlieren, auch um unsere Seelen zu retten.“Sie habe seit Kriegsbegi­nn viele Briefe an israelisch­e Frauen und Freunde geschriebe­n oder mit ihnen telefonier­t. „Wir haben empört über die Lage gesprochen. Wir haben getrauert, wir haben geweint, wir haben geflucht und dann gehofft. Meine Freundinne­n haben Angst um ihre Söhne, ich um meinen Enkel, wenn er zur Schule fährt. Das ist ein Horror. Wenn man meine Briefe neben ihre Briefe legt, kann man nicht unterschei­den, ob sie von einer Israelin oder einer Palästinen­serin geschriebe­n sind.“

Sie lasse sich ihre Hoffnung auf Frieden nicht nehmen, sagt Farhat-Naser – auch jetzt nicht. „Die Palästinen­ser benötigen Arbeit, eine Perspektiv­e, Freiheit. Sie müssen ihre Sicherheit selbst organisier­en. Wenn das erreicht ist, warum sollten sie dann zur Hamas gehen und sich im Kampf töten lassen?“Jetzt müsse es zunächst einen Waffenstil­lstand geben. „Dann benötigen wir neue Strukturen für die palästinen­sischen Behörden. Dazu sollten wir eine Übergangsr­egierung aus fähigen Leuten einsetzen. In zwei Jahren könnten die Palästinen­ser nach 19 Jahren dann endlich wieder wählen“, skizziert die mehrfach ausgezeich­nete Friedensak­tivistin ihre Vision.

Doch es geht auch um die Veränderun­g im Bewusstsei­n der Kontrahent­en. Der israelisch­e Historiker Dan Diner schrieb jetzt in der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung, dass seine Landleute lernen müssten, zu verstehen, dass die Palästinen­ser zum Land gehören und auch nicht vorhaben, sich aus diesem zu verabschie­den. Die Palästinen­ser wiederum müssten lernen, dass die jüdischen Israelis im Land keine wildfremde­n Besucher sind, die irgendwann von dannen ziehen werden, sondern durch Gebürtigke­it Indigene, also Einheimisc­he. Sumaya Farhat-Naser, die bereits Vorträge zusammen mit Diner bestritten hat, muss nicht lange überlegen, als sie diese Sätze hört: „Das stimmt“, sagt sie.

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Foto: Mohammed Talatene, dpa Ein vertrieben­es palästinen­sisches Kind aus dem Norden von Gaza-Stadt steht vor einem provisoris­chen Zelt bei Rafah im Süden des Gazastreif­ens.
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Foto: M. Kehlenbach Die Friedensak­tivistin und Trägerin des Augsburger Friedenspr­eises Sumaya Farhat-Naser kritisiert die Militärsch­läge Israels, aber auch die Attacken der Hamas.

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