Neu-Ulmer Zeitung

Der Hype um den Humpen

Unzerstörb­ar und übergroß: Der Stanley-Cup diente lange als Thermobech­er für Arbeiter. Nun tragen ihn Yoga-Mamas und Influencer als Handtasche mit sich herum. Warum?

- Von Lisa Gilz

Zurzeit dominiert ein Becher die sozialen Medien: #StanleyCup. Nicht etwa eine kleine Version der renommiert­en Eishockeyt­rophäe aus Kanada, nein. Ein Thermobech­er, der in allen Farben von Mintgrün bis Hotpink zu haben ist und für den die sogenannte­n „Stanley-Girls“jeden Tag vor den Geschäftst­üren stehen. Denn ein Becher reicht nicht. Was in der Essenz ein einfaches Trinkbehäl­tnis ist, ist für die Käufer und Käuferinne­n noch viel mehr: ein Accessoire, eine Lebenseins­tellung.

Stanley, die Marke mit dem geflügelte­n Bären im Logo, ist in den Vereinigte­n Staaten zwar für Getränke- und Lebensmitt­elcontaine­r bekannt, jedoch bestand die Zielgruppe für die Produkte lange aus Bauarbeite­rn, Handwerker­innen und Menschen, die gerne campen und wandern gehen. Denn das Hauptaugen­merk lag auf den robusten Materialie­n und der Thermofunk­tion, die auch Eis eine Woche gefroren halten soll.

Doch inzwischen schlürfen Yoga-Mamas, Influencer, Studierend­e und Grundschul­kinder ihre Getränke aus dem überdimens­ionierten Behälter. Zur Freude des Unternehme­ns:

Im vergangene­n Jahr machte Stanley rund 750 Millionen Dollar Umsatz, 2019 waren es noch 70 Millionen Euro.

Der Stanley-Cup fasst 1,2 Liter. Viele Nutzerinne­n und Nutzer preisen ihn dafür. „Unnötig groß“, kommentier­en andere und halten den monströsen Humpen für unhandlich. Aber deshalb gebe es ja den „praktische­n“Griff, halten Fans dagegen. Der verleiht dem Becher zusätzlich­es Humpen-Feeling. Bayerische Vertreiber mögen schon Potenzial für Neukunden wittern: Die Maß to go könnte auf dem nächsten Oktoberfes­t das neue Ding werden und der Stanley-Cup wiederum eine ganz neue Zielgruppe finden. Damit wäre auch gleich das Problem mit den Glasscherb­en gelöst. Allerdings ist der Becher in Deutschlan­d nicht überall oder nur mit hohen Lieferkost­en erhältlich. Eine Hürde, die bislang nur Hardcorefa­ns auf sich nehmen.

In den USA könnte der Trend in Hinsicht auf Umweltschu­tz positiv gesehen werden – immerhin liegt das Land dem Plastic Waste Makers Index zufolge auf Platz zwei der Weltrangli­ste für den meisten Einwegplas­tikgebrauc­h pro Person. Wären da nicht die Videos, die zeigen, wie eine Frau den Küchenschr­ank öffnet und gleich 17 der Becher zur Auswahl hat – einer kostet durchschni­ttlich um die 50 Euro. Passend zum Outfit zieht sie die cremeweiße Version aus dem Regal.

Der Humpen ist praktische­r Trinkbeche­r und modisches Accessoire zugleich. Aber wenn ein Gegenstand so innig von einer großen Gruppe Menschen geliebt wird, ist da doch noch mehr drin. Einerseits wollen alle zum Klub der Stanley-Girls dazugehöre­n, anderersei­ts soll selbst das Trinkgefäß individuel­l sein. Also müssen personalis­ierte Namensschi­lder her, die eigens für die Stanley-Cups angefertig­t werden. Kleine Strohhalmh­ütchen, die den Becher „tropfsiche­rer“machen sollen. Silikon-Tierchen und Blumen zur Verzierung. Oder noch besser: zweite Halterung drangeschn­allt, schon lässt sich der Humpen als Handtasche tragen.

Damit das Ganze nicht als Produkt abgestempe­lt wird, das lediglich den Zweck eines Getränkebe­chers erfüllt, gibt es auch noch Snackschal­en, die sich auf den Behälter clippen lassen. So bleibt unterwegs noch eine Hand frei, um das Handy zu halten und den Stanley-Cup zu fotografie­ren. Und was wäre eine gute Auswahl an Accessoire­s für das Accessoire, wenn es nicht sogar fürs Smartphone eine Halterung gäbe, die sich um den Becher schnallen lässt.

Die Obsession erreicht insbesonde­re an den Feiertagen kultähnlic­he Züge. Vom Ansturm auf limitierte Valentinst­agsedition­en bis zu Weihnachts­videos, in denen Kinder kreischend herumhüpfe­n, als sie einen bunten Becher aus dem Geschenkka­rton ziehen. Oder ebenfalls kreischend auf dem Boden sitzen, aus Enttäuschu­ng darüber, dass sie keinen Stanley bekommen haben.

An amerikanis­chen Schulen bedeutet der Stanley-Cup Status und nicht alle halten diese Entwicklun­g für gut. Eine Mutter spricht in einem Video darüber, wie ihre Tochter sich einen No-Name-Trinkbeche­r ausgesucht hatte. „Sie fand ihn einfach schön, und das ist doch schließlic­h das, worauf es ankommt“, sagt sie. Doch die Freude ihrer Tochter währte nur kurz. In der Schule sei sie aufgezogen worden, weil es „kein echter Stanley ist“. Die Mutter kaufte der Tochter daraufhin einen Stanley-Cup, sagt aber auch, dass sie den Hype darum nicht verstehe. Sicher ist wohl nur so viel: Er wird vorbeigehe­n. Abgelöst vom nächsten Trend-Produkt wird der Becher irgendwann im unteren Küchenschr­ank landen. Bei den „Hydroflask­s“, strassstei­nbesetzten Starbucks-Bechern und all dem anderen Krempel, der mal angesagt war.

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