Ewald Arenz: Alte Sorten (51)
Roman von Ewald Arenz
Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgängerinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiedenheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrscht reagiert.
© 2019 DuMont Buchverlag, Köln
Sie rannte in die Gasse neben der Kirche und wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Links ging es über den Zaun zurück auf Liss’ Hof. Geradeaus kam man einfach am Garten vorbei auf freies Feld. Da konnte man sie kilometerweit sehen. Außerdem wohnte dort der bescheuerte Nachbar. Okay. Wohin? Wohin? Sie riss das Gittertor zum Kirchhof auf, lief zur Tür und probierte die Klinke. Offen. Sie fiel fast hin, so überrascht war sie, dass die Tür sich öffnen ließ. In einer Kirche. Ausgerechnet.
Sie musste fast lachen, hustete aber dann, weil sie noch so außer Atem war und sich außerdem ihr Magen plötzlich hob. Scheiße! Was sollte das? Ihre Knie waren weich und zitterten, und ihr war schlecht. Sie hielt sich an einer der Bänke fest.
Hier in der Kirche war es schon fast ganz dunkel. Es roch nach altem Holz. Ficken! Warum konnten die einen nicht einfach in Ruhe lassen? Was sollte das? Weil sie es einfach nicht ertragen konnten, dass andere nicht in derselben Scheißwelt leben wollten wie sie. Weil sie alle anderen in diesen Dreck, in diesen stinkenden Sumpf reinziehen wollten, diesen Sumpf aus kaputten Zielen und Träumen und Wünschen und allem. Und wenn eine es schafft, sich da rauszuziehen, dann kommen sie, weil sie nicht allein in dem Müll sein wollen. Weil sie wollen, dass das Leben der anderen auch kaputtgeht. Brennt doch in der Hölle!
Sie sah sich um. Bei der Beerdigung hatte sie doch diese Tür gesehen; vorne am Altar. Sie ging nach vorne und probierte sie. Auch offen. Ein kleines Zimmer mit einem Schrank und einem Tisch, auf dem sie in der Dämmerung ein Kreuz erkennen konnte und ein paar Pokale. Kelche. Kelche hießen die. „Sarah!“
O Scheiße.
„Sarah! Sarah!“
Das war ihre Mutter. Sie hörte ihre Mutter rufen. War die wirklich so dumm? Sarah! Darauf reagierte sie schon so lange nicht mehr. So wie es sich anhörte, war sie auf dem Hof oder auf der Straße.
In dem kleinen Zimmer gab es eine weitere Tür, die offen stand und den Blick auf eine Treppe freigab. Sie führte irgendwohin nach oben. Sally lief sie hoch. Jetzt war es sowieso schon egal. Es war hier noch dunkler als unten, und sie sah die Stufen kaum. Nach zwei Wendungen ging es auf die Kanzel, und es wurde ein bisschen heller. Von dort aus konnte man in den Kirchenraum sehen, aber sie stieg höher. Die Treppe ging anscheinend in den Turm. Sie kam an zwei Luken vorbei, durch die sie das Dach von Liss’ Scheune sehen konnte. Dann trat sie in das Turmzimmer, in dem ein Glasschrank stand. In ihm befand sich das Uhrwerk, das konnte sie sehen. Und eine Leiter stand in dem Raum. Genau in der Mitte. Über ihr war die Luke zum Glockenstuhl. Das Ticken des Uhrwerks war richtig laut.
„Sarah!“
Fick dich, Sarah. Wer bist du, Sarah? Sarahkind steigt jetzt die Leiter hoch.
Als sie halb oben war, wurde ihr leicht schwindelig. Die Leiter war ganz schön hoch. Und rauf war nicht das Problem. Runter war das Problem. Sie schloss für einen Moment die Augen. Okay, sie wollte sowieso nicht runter. Gut, dass es so dunkel war und sie fast nichts sehen konnte. Steig weiter, Sarahkind! Auf, auf!
Es half, innerlich die Stimme ihrer Mutter zu benutzen. Es machte sie wütend. Zum Glück gab es oben einen richtigen Boden, auf den sie treten konnte. Es war fast wie ein zusätzliches Zimmer, nur dass hier die Glocken hingen. Außerdem war es hier heller. Der Himmel war noch gar nicht ganz dunkel, und das Licht der Straßenlaternen schimmerte durch die Luken. Der Boden war bedeckt von Taubendreck und Federn, aber es wehte eine Brise durch die Schalllöcher. Sie stellte sich auf einen der Querbalken des Glockenstuhls und konnte über das Dach der Scheune hinweg ein Stück vom Hof und das Haus sehen, aber nicht die Autos. In ihr wurde es ruhiger. War ja klar gewesen, dass sie nicht ewig hierbleiben konnte. Plötzlich sah sie alles vor sich. In allen bescheuerten Details. Ihr Zimmer. Die Küche, in der sie jeden Tag allein frühstückte. Oder eben nicht. Der Weg zur Schule, den sie jeden Tag gehen musste. Und alles andere auch, das wieder von vorne begann. Die Übelkeit, die vom rasenden Hinauflaufen gekommen war, stieg wieder in ihr hoch, setzte sich im Hals fest und machte das Schlucken
schwer. Sie hatte einfach keine Lust darauf, wieder zurückzumüssen. Sie fuhr zusammen, als eine Taube aufflatterte. Verdammt, wieso erschrak sie die ganze Zeit?
Ja, wieso? Was war schon? Es war einfach vorbei. Egal, ob sie sich hier oben versteckte. Eigentlich konnte sie auch gleich wieder runtergehen. Wenn nicht heute, dann halt morgen. Klar, sie konnte noch für ein paar Tage weiterziehen, aber irgendwann würden sie sie doch finden. Und außerdem – verdammt! Sie hatte keine Lust, woandershin zu gehen.
Die Erkenntnis traf sie fast körperlich. Für einen Augenblick schwankte sie auf dem Balken und griff hinter sich, um sich zu halten. Es war die Glocke, an der sie sich abstützte und die nur ganz leise ihrem Druck nachgab. Das Metall war kühl und rau. Ja. Scheiße, ja. Sie wollte nirgendwo anders hin. Der Hof war der beste Platz, an dem sie je gewesen war. 52. Fortsetzung folgt