Neu-Ulmer Zeitung

Abschied vom Wunschkind

Acht Jahre lang versucht Thea Siemes, schwanger zu werden. Das Thema bestimmt ihr Leben. Bis sie akzeptiert, dass sie nie Mutter wird – und anfängt zu trauern.

- Von Anna Scheld

Was zum Teufel machen wir hier eigentlich? Thea Siemes erinnert sich an das Gefühl, das diese Frage umhüllt. Es war einer der vielen schmerzhaf­ten Abende. Mit ihrem Mann saß sie im Wohnzimmer auf der Couch, er hielt eine Spritze in der Hand, kniff mit der anderen in ihren unteren Bauch und pikste. Eine von vier Spritzen täglich. Über mehrere Wochen. Die Hormone schossen in ihren Körper.

Sie sollen bewirken, dass Siemes’ Eizellen reifen. Dann können sie in der Klinik entnommen werden für eine künstliche Befruchtun­g. Auf Siemes’ Bauch breitete sich durch die Spritzen ein faustgroße­s Hämatom in dunkellila aus. Der Stich fühlte sich an wie der einer Wespe.

An diesem Abend dachte sie sich: Wir wollen doch nur ein Kind.

Thea Siemes, 38, möchte Ihren echten Namen nicht veröffentl­icht sehen, zu intim, was sie von sich erzählt. An einem Freitagmit­tag sitzt sie in ihrer Küche, in einer Stadt in Ostdeutsch­land. In die Mitte des kleinen Tisches setzt sich ihr alter Kater. „Der steht gerne im Mittelpunk­t“, sagt sie und hebt ihn hoch. „Irgendwie sind meine Tiere eine Art Kinderersa­tz für mich.“Unter dem Tisch legt ein müder Hund seine Schnauze auf die linke Pfote.

Das erste Baby, in das Thea Siemes sich verliebt hat, war ihre kleine Schwester. Sie wurde geboren, als Siemes sechs war. Mit 19 ging Siemes als Au-pair nach London. Während des Studiums passte sie jahrelang auf zwei Kinder auf, irgendwann bekam die Familie ein drittes, Siemes betreute es von Geburt an. Siemes’ Mutter ist Lehrerin, ihre Schwester auch. Sie selbst hat Lehramt studiert, aber einen anderen Beruf gewählt. Sie wollte eines Tages genügend Raum für ihr eigenes Kind haben.

Frauen sprechen meistens über ihren schwierige­n Weg zum eigenen Kind, wenn es am Ende doch geklappt hat. Es gibt kaum Stimmen von denen, die es erfolglos versuchen. Als sei eine Geschichte es nicht wert, erzählt zu werden, wenn das Happy End fehlt.

In einem Bericht des Bundesfami­lienminist­eriums aus dem Jahr 2020 heißt es, dass der Anteil der unfreiwill­ig Kinderlose­n im Alter zwischen 20 und 50 in den vergangene­n Jahren stark gestiegen sei – von 25 auf 32 Prozent. Nach jüngsten Zahlen lebt fast jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 unfreiwill­ig ohne Kind.

Siemes kann keine Kinder bekommen. Die Aussage ist die schmerzhaf­te Erkenntnis der letzten acht Jahre, in denen ihr Mann und sie es versucht haben. Am Anfang war da noch große Leichtigke­it. Doch die Ernüchteru­ng kam regelmäßig, einmal im Monat mit der Periode. Nach einem Jahr überwies Siemes’ Frauenärzt­in sie an eine Kinderwuns­ch-Klinik. Siemes mag schon das Wort nicht. Es stehe dafür, dass die Gesellscha­ft nicht ausreichen­d Vokabular zur Verfügung hat für Menschen, die keine Kinder bekommen können. Hier geht es um medizinisc­he Diagnosen und Behandlung­en. Dinge werden nicht beim Namen genannt, so kommt es ihr vor. Sie selbst sagt mittlerwei­le über sich, sie sei unfruchtba­r.

Es gibt viele mögliche Ursachen dafür, dass es mit einer Schwangers­chaft nicht klappt. Bei Männern könnte eine Veränderun­g der Spermien dazu führen. Wenn das Problem im Frauenkörp­er liegt, kann es eine Störung des Zyklus oder des Eisprungs sein, beides durch Hormonstör­ungen bedingt. Es kann an Infektions­krankheite­n liegen, an der Ernährung oder am Körpergewi­cht. In zehn bis 20 Prozent bleibt die Ursache ungeklärt. Wie bei Siemes.

Als die Frauenärzt­in Siemes an die Kinderwuns­ch-Klinik überwiesen hatte, blieb ihre Blutung aus. Der Schwangers­chaftstest zeigte zwei Striche. Voller Euphorie ging sie nach neun Wochen zu ihrer ersten Ultraschal­l-Untersuchu­ng, ihr Mann kam mit. Die Ärztin hielt das Ultraschal­lgerät in der Hand und sagte irgendwann: Da ist nichts.

„Missed Abortion“nennt man das, wenn der Körper sich verhält, als sei er schwanger, die Zellen aber aufgehört haben, sich weiterzuen­twickeln. „Mein Körper hat es einfach nicht geschnallt“, sagt Siemes heute. Die Ärztin sei nicht auf ihr Schluchzen eingegange­n, erinnert sie sich. „Nüchtern betrachtet war es nur ein Zellhaufen. Aber für mich war es mein erstes Kind“, sagt Siemes.

Die Zeit danach beschreibt sie als traumatisc­h, sie erinnert sich kaum an das Abschiedsr­itual,

das sie und ihr Mann am See gemacht hatten – war es eine Kerze, die auf dem Wasser geschwomme­n ist, oder etwas anderes? An eines aber erinnert sie sich genau: Dass sie direkt nach dem Ultraschal­l verzweifel­t ihre Hebamme angerufen hat, die sagte: „Du darfst jetzt einfach nur trauern.“

Trauer – das Wort blieb hängen. Es gab ihren Gefühlen Raum, ohne dass sie etwas an ihnen ändern musste.

Ihr Mann und sie wollten nicht aufgeben. Im Urlaub auf Korsika kauften sie einen kleinen Strampler in Blau mit einem

Löwengesic­ht darauf. Aus einem anderen Urlaub in Portugal nahmen sie ein kleines Mützchen mit. Als Zeichen der Hoffnung.

Mit Freundinne­n konnte Siemes kaum über ihre Erfahrunge­n reden. Sie wünschte sich, dass jemand ihr einfach nur zuhört. Stattdesse­n bekam sie oberflächl­iche Ratschläge. „Du musst es nur genug wollen“, „Das wird schon noch“. Mit einer Freundin, die relativ spät ein Kind bekommen hat, saß sie einmal beim Kaffee zusammen. Die Freundin wog ihr Baby und sagte: „Weißt du, die Seele des Kindes entscheide­t, wann sie zu dir kommen will.“Siemes erinnert sich: „Der Satz fühlte sich beschissen an.“

Für Siemes war es ein wichtiger Schritt, ehrlich zu ihren Freundinne­n zu sein. Vor allem zu denen, die Kinder haben. Ihnen zu sagen, was ihr hilft: Zuhören. Nachfragen. Negative Gefühle aushalten. Da sein, egal, was kommt. Trotzdem sehnte sie sich nach Menschen, die genau das fühlen, was sie fühlt. Sie suchte sich eine Selbsthilf­egruppe. Siemes war erleichter­t, dass die anderen einfach nur nickten, ohne ihr Ratschläge geben zu wollen. Und Dinge sagten wie: „So fühle ich mich auch“, oder: „Ich verstehe dich.“Die Frauen warfen sich Begriffe zu, benutzten Abkürzunge­n für Behandlung­smethoden, die sie nicht kannte und bei denen sie dachte, die würde sie eh nicht brauchen. Nach und nach wurden die anderen Frauen schwanger und verließen die Gruppe. Neue kamen dazu. Siemes blieb. Nach einer Weile kannte sie alle Abkürzunge­n. Manchmal kam ihr der Gedanke: „Oh Gott, ich bleibe hier übrig.“

Durch die Selbsthilf­egruppe fühlte sie sich bestärkt, eine künstliche Befruchtun­g in einer Kinderwuns­ch-Klinik zu versuchen. Vier Behandlung­en hat Siemes insgesamt durchgemac­ht, davon dreimal Invitro-Fertilisat­ionen, kurz: IVF. An die erste erinnert sie sich noch genau: An die Spritzen, die sie sich wochenlang zuvor gesetzt hatte, daran, wie sie in dem kleinen OP-Zimmer lag, voll mit Hormonen. Wie sie aus der Narkose erwachte und neben ihrem Kopf ein Zettel lag. Dort stand die Anzahl der Eizellen, die entnommen werden konnten.

Siemes wurde nicht schwanger.

Die 38-Jährige geht ins Arbeitszim­mer, das eigentlich ein Kinderzimm­er werden sollte und zieht einen Ordner aus dem Regal: Schreiben der Krankenkas­se, Behandlung­sergebniss­e,

Überweisun­gsscheine. Ihre Sehnsucht und ihr Schmerz sind zur Bürokratie-Sache geworden. Eine IVF-Behandlung kostet bis zu 3500 Euro, dazu kommen oft Kosten für Medikament­e, auch noch mal mehrere Hundert Euro. Die Krankenkas­se übernimmt oft die Hälfte – aber nur, wenn ein Paar verheirate­t ist.

Es war einer der vielen Abende, sie weiß nicht mehr genau wann, als sie verzweifel­t im Bett lag, ihr Mann sie ganz fest umarmte und sagte: „Egal, was passiert. Hauptsache, wir haben uns.“Sie weiß, dass er den Satz so gemeint hat. Sie fühlte Liebe für ihn und Dankbarkei­t, und gleichzeit­ig Schmerz und Schuld, denn sie spürte: Für mich ist es nicht egal.

Siemes sagt, sie kenne mehrere Paare, deren Beziehung daran zerbrochen ist. Ihre Beziehung sei intensiver geworden durch alles, was passiert ist. Und doch ist da die Trauer. Trauer um das Leben, das sie nicht lebt. Trauer um die Leben ihrer Kinder, die nie gelebt werden.

Ihr zweites Kind verlor sie am 24. Dezember 2021, nach etwa neun Wochen Schwangers­chaft. Den Schwangers­chaftstest hat sie noch, irgendwo im Badezimmer-Schrank. Mit den zwei Strichen darauf. Er ist der einzige Beweis für das kurze Glück. Für die kurze Fähigkeit ihres Körpers, ein Wesen in sich zu tragen.

Oktober 2022. Der dritte IVF-Versuch, Siemes erinnert sich an jedes Detail. Wie sie auf der Liege im OP-Zimmer lag, noch ganz benommen und auf den Zettel neben sich schaute: Dort stand die Zahl 8. Acht Eizellen konnten entnommen werden. Das war wenig. Sie weinte, setzte sich vor die Ärztin, weinte immer noch, tupfte sich das Gesicht ab. Die Ärztin sah sie kurz musternd an, schaute dann zurück auf ihren Bildschirm, murmelte: „Sie wirken belastet.“

Die Eizellen, die entnommen wurden, wurden im Labor mit den Spermien vermischt, die ihr Mann abgegeben hatte. Ein paar Tage später teilte eine Mitarbeite­rin im Labor ihnen am Telefon mit, dass „kein Zeichen einer Befruchtun­g“beobachtet werden konnte.

Acht Jahre. Vier Behandlung­en. Zwei Fehlgeburt­en. Ihr Körper konnte nicht mehr, ihre Hoffnung war erschöpft.

Die letzte IVF ist jetzt ein halbes Jahr her, und es gibt immer längere Phasen, in denen es ihr gut gehe, sagt Siemes. Neulich saß sie bei einer Freundin in der Küche. Da stand ein Schulranze­n, da lagen Schuhe im Flur, da hing ein Abc-Poster an der Wand. Es fühlte sich an, als sei sie in dem Traum zu Gast, der nicht mehr in Erfüllung geht für sie. Auf dem Rückweg im Zug weinte und weinte sie, ein Schluchzen, das von tief in ihrem Körper kam.

Auf ihrem Instagram-Kanal, wo sie anonym ihre innere Welt darstellt, schreibt sie: „Mein Herz schlägt weiter. Der Raum wird für immer reserviert sein für meine Kinder. Für die, die ich verloren habe, und die, die nie gekommen sind, und für die, die – wie auch immer – ihren Weg zu mir finden werden.“

Der Test zeigte zwei Striche, die Euphorie war groß.

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Foto: stock.adobe.com Ein Baby zu bekommen, das klingt manchmal leichter, als es ist. Fast jedes zehnte Paar ist unfreiwill­ig kinderlos.

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