Neu-Ulmer Zeitung

Wer sich beim Suizid helfen lässt

Die Zahl der Menschen, die mithilfe der Gesellscha­ft für Humanes Sterben ihr Leben vorzeitig beendet haben, hat sich 2023 verdoppelt. Der Verein erwartet, dass es in den nächsten Jahren noch mehr werden.

- Von Christian Grimm

Berlin Eine noch ziemlich junge Frau von 36 Jahren setzt ihrem Leben ein Ende – eine heimtückis­che Muskelkran­kheit hat es ihr zur Hölle gemacht. Ein Mann von 101 Jahren setzt seinem Leben ein Ende – er hatte es satt. In dieser Spanne spielen die Geschichte­n von Leben und Tod, die Robert Roßbruch begegnen. Der Mann ist Vorsitzend­er der Gesellscha­ft für Humanes Sterben. Und er ist Jurist. Sein Beruf ist kein Nachteil in dieser delikaten Sache, im Gegenteil. Wer sich in Deutschlan­d selbst töten will und dabei Hilfe sucht, der betritt juristisch schwankend­es Terrain. Riskant werden kann es vor allem für die Ärzte, die bei dem Suizid assistiere­n. In Berlin steht derzeit deshalb ein Mediziner vor Gericht, in Essen wurde kürzlich ein Arzt zu drei Jahren Freiheitss­trafe wegen Totschlags verurteilt. Gegen die Entscheidu­ng ist Revision eingelegt worden.

Robert Roßbruch will nicht, dass die Menschen aus Deutschlan­d zum Sterben in die Schweiz fahren müssen, wo die Sterbehilf­e sehr liberal geregelt ist. Seine Organisati­on unterstütz­t Menschen, die sanft aus dem Leben scheiden wollen. Vergangene­s Jahr waren es 419, im Jahr davor 229. Es sind also fast doppelt so viele zu Roßbruch gekommen.

Über 80 Prozent waren älter als 70 Jahre. Sie leiden häufig an Krebs, werden geplagt von verschiede­nen anderen Krankheite­n, oder wollen einfach nicht mehr.

Zum Vergleich: Insgesamt bringen sich in Deutschlan­d pro Jahr rund 10.000 Menschen auf die verschiede­nsten Arten um. Neben der Gesellscha­ft für Humanes Sterben begleiten außerdem der Verein Sterbehilf­e und Dignitas Deutschlan­d Menschen in den Tod. Roßbruch schätzt, dass sie zusammen auf 1000 Fälle kommen. Weil die Gesellscha­ft altert, rechnet er damit, dass es in den nächsten Jahren mehr werden.

Die Gesellscha­ft für Humanes Sterben vermittelt den Hilfesuche­nden Ärzte und Juristen für den letzten Gang, es sind 30 Teams in ganz Deutschlan­d. Dafür muss man der Gesellscha­ft beitreten, 120 Euro kostet der Mitgliedsb­eitrag pro Jahr. Vor dem begleitend­en Suizid muss der freie Wille desjenigen festgestel­lt werden, der den Tod sucht. Das tun die Juristen. Die Ärzte beraten über Therapien, über Alternativ­en zum Suizid. Sie schreiben medizinisc­he Gutachten oder holen diese von Kollegen ein. In der Stunde des Todes sind sie an der Seite des Patienten. Der Mediziner legt eine Kanüle, er fragt, ob der Beutel mit dem todbringen­den Präparat an den Tropf gehängt werden soll. Den finalen Schritt muss jeder allein machen. „Der Betroffene dreht die Infusion auf“, erzählt Roßbruch. Nach dem Dahinschei­den wird die Kripo informiert, das vorgeschri­ebene Ermittlung­sverfahren

beginnt. Für Polizei und Staatsanwa­ltschaft ist entscheide­nd, wer das Rädchen aufgedreht hat. Denn es wäre aktive Sterbehilf­e, wenn es der Mediziner machen würde. Das wäre eine Tötung auf Verlangen und die ist strafbar in Deutschlan­d. Dennoch zeigen die beiden Prozesse gegen die Ärzte, dass sie auch bei der passiven Sterbehilf­e einem Risiko ausgesetzt sind. Das liegt daran, dass die Rechtslage nicht genau definiert ist. Vor beinahe genau vier Jahren hat das Bundesverf­assungsger­icht geurteilt, dass sich aus dem Grundgeset­z ein „Recht auf selbstbest­immtes Sterben“ableite. Dieses Recht umfasst in der Herleitung der obersten deutschen Richter die „Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen“. Sie erklärten das bis dato gültige weitgehend­e Verbot der passiven Sterbehilf­e für ungültig. Das Verfassung­sgericht sprach dem Bundestag aber ausdrückli­ch die Möglichkei­t zu, die Paragrafen neu zu regeln. Doch das haben die Abgeordnet­en bis heute nicht erreicht. Zwar arbeiteten zwei fraktionsü­bergreifen­de Gruppen an Gesetzentw­ürfen, doch keiner der beiden fand eine Mehrheit im Hause. Die Abgeordnet­e Katrin Helling-Plahr von der FDP schrieb federführe­nd an einem Vorschlag.

Sie hält es nach wie vor für nötig, dass der Bundestag aktiv wird. Noch immer mangele es an Klarheit, wer wen auf welche Weise bei einem Freitod helfen darf. „Als Gesetzgebe­r dürfen wir die Augen hiervor nicht verschließ­en“, sagt die 37-Jährige unserer Redaktion. Sie hat nicht aufgegeben. Nach dem Scheitern im vergangene­n Sommer hat ihre Gruppe aus Abgeordnet­en weiter an dem Gesetzentw­urf gefeilt, um ihn für eine Mehrheit zustimmung­sfähig zu machen. „Es ist unsere Verantwort­ung als Gesetzgebe­r, bestehende Grauzonen zu beseitigen“, meint Helling-Plahr.

Ärzte beraten über Therapien und Alternativ­en.

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Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Über 80 Prozent der Menschen, die bei der Gesellscha­ft für Humanes Sterben Hilfe suchten, waren über 70 Jahre alt.

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