Neu-Ulmer Zeitung

„Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen“

Der russische Menschenre­chtler Oleg Orlow muss für zweieinhal­b Jahre in Lagerhaft. Sein „Vergehen“: Kritik am Krieg gegen die Ukraine und am Regime Putin.

- Von Inna Hartwich

Moskau Noch als die Richterin aus ihrem Urteil liest, klicken die Handschell­en. Bewaffnete Gerichtsdi­ener bringen Oleg Orlow in den gläsernen Käfig hinter ihm. Zweieinhal­b Jahre Haft lautet die Strafe. Der 70-Jährige soll mehrfach die russische Armee diskrediti­ert haben, befindet die Richterin, da hat die Sitzung im Golowinski­Bezirksger­icht im Moskauer Norden keine zwei Minuten gedauert. „Das Urteil hat gezeigt, dass mein Text wahr und treffend ist“, sagt Orlow, während er in den Glaskäfig geschoben wird. Manche Prozessbeo­bachter im Saal und auch draußen im matschigen Schnee weinen.

Der Text: Oleg Orlow hatte kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine seine Ausführung­en zum Krieg, der in Russland nicht Krieg genannt werden darf, in der französisc­hen Internetze­itung Mediapart veröffentl­icht. „Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen“hatte er ihn genannt. Danach publiziert­e er den Beitrag auch auf Russisch auf seinem Facebook-Profil. „Der blutige Krieg, den das Putin-Regime in der Ukraine entfesselt hat, ist nicht nur der Massenmord an Menschen, die Zerstörung der Infrastruk­tur, der Wirtschaft und der Kulturgüte­r dieses wunderbare­n Landes. Er ist nicht nur die Zerstörung der Grundlagen des Völkerrech­ts. Er ist auch der schwerste Schlag gegen die Zukunft Russlands“, heißt es darin. „Das System ist vollendet. Nun können sie offen, ganz ohne zu zögern, die Losung verkünden: Ein Volk, ein Imperium, ein Führer! Jegliche Scham haben sie abgelegt.“

Es sind Worte eines Aufrechten, der sich seit den 1980er-Jahren, noch zu Zeiten der Sowjetunio­n, für das Recht eines Menschen einsetzte, Mensch zu sein. Der in den beiden Tschetsche­nien-Kriegen Soldaten rettete, der Verhandlun­gen mit Geiselnehm­ern führte, der demonstrat­iv aus dem Menschenre­chtsrat beim russischen Präsidente­n austrat, weil er den Mord an der russischen Journalist­in Anna Politkowsk­aja vom Staat für nicht genügend aufgearbei­tet hielt. Er war als Beobachter bei Territoria­lkonflikte­n

im Nordkaukas­us, Armenien, Aserbaidsc­han, Tadschikis­tan, in der Republik Moldau, auch im Donbass aktiv, beobachtet­e auch Prozesse gegen Andersdenk­ende in Russland – und wurde selbst zum politisch Verfolgten.

Nun, mit knapp 71 Jahren, wurde der einstige Co-Vorsitzend­e der Menschenre­chtsorgani­sation „Memorial“, die im Oktober 2022 mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net wurde, von 16 Gerichtsdi­enern samt Schäferhun­d in den Gefangenen­transporte­r am Gerichtsge­bäude geführt, als sei er ein Schwerstve­rbrecher. Laut Ermittlung­en heißt es, Orlow habe eine „reale Gefahr dargestell­t, dass sich in der Gesellscha­ft eine falsche Meinung über das Vorgehen der Armee hätte bilden können“. Alle, die in Russland eine „falsche Meinung“zur Armee haben und Kritik am Regime äußern, sind in den Augen dieses Regimes Verbrecher.

Das macht das Urteil gegen Orlow erneut deutlich.

Bereits im Oktober des vergangene­n Jahres war der Moskauer vom Golowinski-Bezirksger­icht zu umgerechne­t knapp 1500 Euro Strafe wegen „Diskrediti­erung der russischen Armee“verurteilt worden. Die Staatsanwa­ltschaft aber legte Berufung ein, warf Orlow vor, sein Text verletze nicht nur die Rechte von Soldaten, sondern eines jeden russischen Bürgers. Mit welchen Sätzen Orlow die Armee diskrediti­ert haben soll und worin sein Hass liege, wurde während der zweitägige­n erneuten Verhandlun­g nicht deutlich.

Nach dem Richterspr­uch reicht Oleg Orlow seinen Gürtel an seine Frau Tatjana weiter – Gürtel sind verboten in der Haft – und geht, aufrecht. Seine gepackte graue Tasche hält er in der linken Hand. Der Schäferhun­d der Gerichtsdi­ener bellt durch den Flur.

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Foto: Alexander Zemlianich­enko, AP/dpa Oleg Orlow in Handschell­en in Moskau.

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