Vor dem Kollaps?
Ein Erliegen der Atlantikströmung würde das Klima auf der Welt grundlegend verändern. Forscher warnen unter anderem vor eisigen Temperaturen in Teilen Europas.
Berlin Einige besonders prominente Auswirkungen der Klimaerwärmung auf das Erdsystem können vermutlich die meisten Menschen aufzählen: So schmelzen die Polkappen und der Permafrostboden taut. Dass sich die sogenannte Atlantische Umwälzbewegung (abgekürzt Amoc für Atlantic Meridional Overturning Circulation) abschwächt, ist hingegen weit weniger bekannt. Dabei sind die vermuteten Folgen mindestens genauso bedrohlich.
Besonders übel wäre die Situation, sollte dieses Strömungssystem im Atlantischen Ozean, zu dem auch der Golfstrom gehört, komplett zusammenbrechen. Fachleute sprechen von einem sogenannten Kipppunkt, die Amoc würde innerhalb weniger Jahrzehnte zum Erliegen kommen und sich auch unter günstigen Bedingungen nicht erholen.
Grundsätzlich verlagert die Amoc – ganz grob gesagt – Wärme aus dem Süd- in den Nordatlantik und trägt so zu einem vergleichsweise milden Klima in West- und Nordeuropa bei. Ob und unter welchen Umständen dieses Strömungssystem kollabieren könnte, wird in der Fachwelt intensiv diskutiert. Allerdings mehren sich die Hinweise, dass dies sowohl möglich ist, als auch wahrscheinlicher wird. So zeigten niederländische Forscher im Fachblatt Science Advances kürzlich, dass sie einen Zusammenbruch der Amoc auch in einem komplexeren Klimamodell unter bestimmten Bedingungen simulieren können. Die Arbeit wurde von mehreren Fachleuten als solide eingestuft, es gab aber auch Kritik an bestimmten Annahmen der niederländischen Gruppe.
Diese stellte auch eine Art Frühwarnsystem vor, das den Forschern zufolge zeigt, dass sich die Nordatlantikströmung in Richtung eines Kipppunkts entwickelt. Die Folgen wären den Analysen zufolge dramatisch: In manchen Städten Europas könnte die Jahresmitteltemperatur innerhalb von 100 Jahren je nach Region um einige bis zu 15 Grad fallen. Besonders stark sinke sie im Winter und im Nordwesten. So könnte es im norwegischen Bergen im Februar um mehr als drei Grad pro Jahrzehnt kälter werden.
Die verheerenden Auswirkungen solcher rasanten und extremen Veränderungen auf Natur und Landwirtschaft kann man nur erahnen. In anderen Regionen könnte es eine beschleunigte Erwärmung geben. Für den Amazonas zeigt das Modell eine drastische Änderung der Niederschlagsmuster. „Außerdem wird prognostiziert, dass durch den abrupten Zusammenbruch der Ozeanzirkulation der Meeresspiegel in Europa um 100 Zentimeter ansteigt“, sagte Erstautor René van Westen von der Uni Utrecht laut Mitteilung.
Um die Auswirkungen der Klimakrise auf die Amoc nachvollziehen zu können, muss man sich das System etwas genauer anschauen. Es besteht – stark vereinfacht – aus zwei entgegengesetzten Strömungen. Warmes Wasser wird nahe der Oberfläche aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transportiert. Dort kühlt es runter und sinkt in Polnähe ab. Als kalte Strömung fließt es in der Tiefe wieder nach Süden. Treiber dieses System sind Dichteunterschiede des Wassers. Vereinfacht gesagt wird das Wasser in Polnähe besonders schwer, weil es kalt und salzig ist. Dadurch sinkt es in die Tiefe und sorgt dadurch für Dynamik.
Die Klimaerwärmung hat auf dieses System aber Fachleuten zufolge eine bremsende Wirkung. Zum einen steigt die Temperatur des Oberflächenwassers im hohen Norden. Zum anderen macht der Eintrag von Süßwasser, beispielsweise von schmelzenden Eisschilden, das Wasser dort weniger salzig. Beide Phänomene senken die Wasserdichte des nördlichen Oberflächenwassers, als Folge wird der Antrieb der Amoc schwächer. Im schlimmsten Fall verstärkt sich das Geschehen immer mehr selbst, bis das Strömungssystem kollabiert.
Die Preisfrage ist, unter welchen Umständen ein solcher Zusammenbruch stattfinden könnte – und vor allem wann. Die Gruppe um van Westen gibt darauf – wie viele andere Fachleute – keine direkte Antwort. Anders dänische Forscher, die im Juli vergangenen Jahres im Fachblatt Nature Communications eine Vorhersage wagten. Demnach ergaben ihre Analysen, dass die Amoc mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen den Jahren 2025 und 2095 zusammenbricht. Die Antwort der Fachwelt kam prompt, die Studie wurde stark kritisiert. So sagt Niklas Boers von der TU München, der selbst intensiv zu einer Abschwächung der Amoc forscht, dass im dänischen Modell bestehende Unsicherheiten nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Arbeit mache viel zu vereinfachende Annahmen, um die zukünftige Entwicklung der Amoc allein aus historischen Daten vorherzusagen, sagte er. (dpa)