Missbrauch: Bewährungsstrafe für Priester
Am Landgericht Ingolstadt war ein Priester angeklagt, weil er einen Ministranten gefesselt und im Intimbereich berührt hat. Sexueller Missbrauch? So hat der Richter entschieden.
Ingolstadt/Neu-Ulm „Deviant ist nicht delinquent“, erklärte Verteidiger Nikolai Odebralski in seinem Plädoyer am Freitag und beantragte Freispruch für den 57-jährigen Pfarrer. Das Ingolstädter Landgericht war hingegen davon überzeugt, dass das, was der Geistliche mit einem Ministranten vor über 15 Jahren im Pfarrhaus einer Kirchengemeinde im Landkreis Pfaffenhofen gemacht hat, nicht nur von der sozialen Norm abweicht, was „deviant“meint, sondern auch strafbar ist. Deshalb hat die Berufungskammer den 57-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt und damit die erstinstanzlich verhängte Strafe der Höhe nach bestätigt – jedoch zur Bewährung ausgesetzt.
Gestützt hat das Gericht das Urteil vor allem auf die Aussage des damaligen Ministranten. Nach der Taufe und dem Eintritt in den Ministrantendienst habe sich der Kontakt zum Angeklagte „immer weiter intensiviert“, begründete der
Vorsitzende Richter Ingo Desing das Urteil. Der Pfarrer habe sich für den Jungen zu einem „väterlichen Mentor“entwickelt, ja sogar zu einem „Ersatzvater“. Als der Geistliche von den sportlichen Aktivitäten des damals 14-Jährigen erfahren habe, habe er ihn aufgefordert, sich bis auf die Unterhose auszuziehen, dann seine Muskeln und Gliedmaßen vermessen, und ihm gesagt, dies müsse „unter uns bleiben“. Mindestens viermal sei es zu solchen Vermessungen gekommen. Das sei zwar „leicht befremdlich“, kommentierte Desing, aber noch nicht strafbar. Sehr wohl strafbar sei hingegen das, was kurz vor oder nach einer Wallfahrt nach Lourdes passiert sei: Der Angeklagte habe den wiederum bis auf die Unterhose entkleideten Ministranten im Pfarrhaus auf einer Liege gefesselt und „um den Intimbereich herum berührt“. Dabei sei es nicht, wie vom Pfarrer angegeben, um die Anwendung physiotherapeutischer Kenntnisse gegangen, sondern um das „Ausleben sexueller Neigungen“, wurde Richter Desing deutlich. Auch wenn dem jungen Mann die zeitliche Einordnung schwergefallen sei: Daran, dass sich die Vorfälle vor seinem 16. Geburtstag ereignet haben, bestünde keine Zweifel.
An der Aussagetüchtigkeit des heute 31-jährigen Opfers gebe es ebenfalls keine Zweifel, erklärte Desing weiter. Seine Aussage sei „von mehr als hinreichender Qualität“und über mehrere Vernehmungen hinweg „weitgehend konstant“. Vor allem habe er „keinen Belastungseifer“gezeigt. Hätten ihn Mitarbeiter des Bistums Augsburg nicht zu einer Strafanzeige motiviert, „würden Sie weiterhin in Amt und Würden sein“, wandte sich der Vorsitzende direkt an den Priester, der sich im Prozess nicht zu den Vorwürfen geäußert hat. Der Ex-Ministrant habe den Angeklagten „eigentlich geschont“, ergänzte Desing. Schließlich hätte der 31-Jährige auch behaupten können, der Geistliche habe ihm unter die Unterhose gegriffen.
Gestützt wurden die Angaben durch weitere Beweismittel. So haben mehrere Zeugen ähnliche Vorfälle geschildert, für die der 57-Jährige aber nicht bestraft werden kann – wegen Verjährung oder weil der Betroffene volljährig war. Die geschilderten Vorfälle seien jedoch „Blaupausen“der Anklagevorwürfe. In einem Entschuldigungsschreiben 2010 habe der Angeklagte „Grenzüberschreitungen“zugegeben und mit medizinischem Interesse begründet. Mit Medizin habe das nichts zu tun, stellte Desing klar – sondern mit Homosexualität. Dafür, dass die von dem Ex-Ministranten geschilderten Handlungen dem Pfarrer „nicht wesensfremd sind“, würden auch die Videos über Doktorspiele junger Männer sprechen, die bei der Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten sichergestellt worden sind. So wie die Videos „pornografisch motiviert“seien, seien die angeklagten Handlungen „eindeutig sexuell intendiert“, war sich Desing sicher und fasste zusammen: In der Gesamtschau sei es „völlig absurd“, die Angaben des Opfers infrage zu stellen.
Dafür, dem Angeklagten eine Bewährung zu versagen, gebe es allerdings „keinen vernünftigen Grund“. Wie auch immer die Kirche mit der Verurteilung umgehe: Die Gefahr, dass der Angeklagte zukünftig mit Kindern oder Jugendlichen zu tun hat, sei „gleich null“, sodass mit weiteren Tat nicht zu rechnen sei. Und wie ist es mit der Verteidigung der Rechtsordnung, also der Frage, was rechtstreue Bürger von der Bewährungsaussetzung halten? Hier sei nicht auf den „Mob auf der Straße“zu achten, erklärte Desing. Ein katholischer Priester habe weder einen Bonus noch einen Malus.
Ganz ungeschoren kommt der Pfarrer, der bis vor drei Jahren in einer Gemeinde im Landkreis NeuUlm tätig war, nicht davon: Er muss eine Sexualtherapie machen und 5000 Euro an das Opfer und weitere 5000 Euro an gemeinnützige Einrichtungen zahlen. Außerdem hat er in den nächsten drei Jahren einen Bewährungshelfer an seiner Seite – wenn das Urteil rechtskräftig wird.
Sowohl Staatsanwältin Sophia Hager, die zehn Monate ohne Bewährung beantragt hat, als auch der Angeklagte können Revision zum Bayerischen Obersten Landesgericht einlegen.