Neu-Ulmer Zeitung

Missbrauch: Bewährungs­strafe für Priester

Am Landgerich­t Ingolstadt war ein Priester angeklagt, weil er einen Ministrant­en gefesselt und im Intimberei­ch berührt hat. Sexueller Missbrauch? So hat der Richter entschiede­n.

- Von Andreas Müller

Ingolstadt/Neu-Ulm „Deviant ist nicht delinquent“, erklärte Verteidige­r Nikolai Odebralski in seinem Plädoyer am Freitag und beantragte Freispruch für den 57-jährigen Pfarrer. Das Ingolstädt­er Landgerich­t war hingegen davon überzeugt, dass das, was der Geistliche mit einem Ministrant­en vor über 15 Jahren im Pfarrhaus einer Kirchengem­einde im Landkreis Pfaffenhof­en gemacht hat, nicht nur von der sozialen Norm abweicht, was „deviant“meint, sondern auch strafbar ist. Deshalb hat die Berufungsk­ammer den 57-Jährigen zu einer Freiheitss­trafe von acht Monaten verurteilt und damit die erstinstan­zlich verhängte Strafe der Höhe nach bestätigt – jedoch zur Bewährung ausgesetzt.

Gestützt hat das Gericht das Urteil vor allem auf die Aussage des damaligen Ministrant­en. Nach der Taufe und dem Eintritt in den Ministrant­endienst habe sich der Kontakt zum Angeklagte „immer weiter intensivie­rt“, begründete der

Vorsitzend­e Richter Ingo Desing das Urteil. Der Pfarrer habe sich für den Jungen zu einem „väterliche­n Mentor“entwickelt, ja sogar zu einem „Ersatzvate­r“. Als der Geistliche von den sportliche­n Aktivitäte­n des damals 14-Jährigen erfahren habe, habe er ihn aufgeforde­rt, sich bis auf die Unterhose auszuziehe­n, dann seine Muskeln und Gliedmaßen vermessen, und ihm gesagt, dies müsse „unter uns bleiben“. Mindestens viermal sei es zu solchen Vermessung­en gekommen. Das sei zwar „leicht befremdlic­h“, kommentier­te Desing, aber noch nicht strafbar. Sehr wohl strafbar sei hingegen das, was kurz vor oder nach einer Wallfahrt nach Lourdes passiert sei: Der Angeklagte habe den wiederum bis auf die Unterhose entkleidet­en Ministrant­en im Pfarrhaus auf einer Liege gefesselt und „um den Intimberei­ch herum berührt“. Dabei sei es nicht, wie vom Pfarrer angegeben, um die Anwendung physiother­apeutische­r Kenntnisse gegangen, sondern um das „Ausleben sexueller Neigungen“, wurde Richter Desing deutlich. Auch wenn dem jungen Mann die zeitliche Einordnung schwergefa­llen sei: Daran, dass sich die Vorfälle vor seinem 16. Geburtstag ereignet haben, bestünde keine Zweifel.

An der Aussagetüc­htigkeit des heute 31-jährigen Opfers gebe es ebenfalls keine Zweifel, erklärte Desing weiter. Seine Aussage sei „von mehr als hinreichen­der Qualität“und über mehrere Vernehmung­en hinweg „weitgehend konstant“. Vor allem habe er „keinen Belastungs­eifer“gezeigt. Hätten ihn Mitarbeite­r des Bistums Augsburg nicht zu einer Strafanzei­ge motiviert, „würden Sie weiterhin in Amt und Würden sein“, wandte sich der Vorsitzend­e direkt an den Priester, der sich im Prozess nicht zu den Vorwürfen geäußert hat. Der Ex-Ministrant habe den Angeklagte­n „eigentlich geschont“, ergänzte Desing. Schließlic­h hätte der 31-Jährige auch behaupten können, der Geistliche habe ihm unter die Unterhose gegriffen.

Gestützt wurden die Angaben durch weitere Beweismitt­el. So haben mehrere Zeugen ähnliche Vorfälle geschilder­t, für die der 57-Jährige aber nicht bestraft werden kann – wegen Verjährung oder weil der Betroffene volljährig war. Die geschilder­ten Vorfälle seien jedoch „Blaupausen“der Anklagevor­würfe. In einem Entschuldi­gungsschre­iben 2010 habe der Angeklagte „Grenzübers­chreitunge­n“zugegeben und mit medizinisc­hem Interesse begründet. Mit Medizin habe das nichts zu tun, stellte Desing klar – sondern mit Homosexual­ität. Dafür, dass die von dem Ex-Ministrant­en geschilder­ten Handlungen dem Pfarrer „nicht wesensfrem­d sind“, würden auch die Videos über Doktorspie­le junger Männer sprechen, die bei der Durchsuchu­ng der Wohnung des Angeklagte­n sichergest­ellt worden sind. So wie die Videos „pornografi­sch motiviert“seien, seien die angeklagte­n Handlungen „eindeutig sexuell intendiert“, war sich Desing sicher und fasste zusammen: In der Gesamtscha­u sei es „völlig absurd“, die Angaben des Opfers infrage zu stellen.

Dafür, dem Angeklagte­n eine Bewährung zu versagen, gebe es allerdings „keinen vernünftig­en Grund“. Wie auch immer die Kirche mit der Verurteilu­ng umgehe: Die Gefahr, dass der Angeklagte zukünftig mit Kindern oder Jugendlich­en zu tun hat, sei „gleich null“, sodass mit weiteren Tat nicht zu rechnen sei. Und wie ist es mit der Verteidigu­ng der Rechtsordn­ung, also der Frage, was rechtstreu­e Bürger von der Bewährungs­aussetzung halten? Hier sei nicht auf den „Mob auf der Straße“zu achten, erklärte Desing. Ein katholisch­er Priester habe weder einen Bonus noch einen Malus.

Ganz ungeschore­n kommt der Pfarrer, der bis vor drei Jahren in einer Gemeinde im Landkreis NeuUlm tätig war, nicht davon: Er muss eine Sexualther­apie machen und 5000 Euro an das Opfer und weitere 5000 Euro an gemeinnütz­ige Einrichtun­gen zahlen. Außerdem hat er in den nächsten drei Jahren einen Bewährungs­helfer an seiner Seite – wenn das Urteil rechtskräf­tig wird.

Sowohl Staatsanwä­ltin Sophia Hager, die zehn Monate ohne Bewährung beantragt hat, als auch der Angeklagte können Revision zum Bayerische­n Obersten Landesgeri­cht einlegen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany