Neu-Ulmer Zeitung

Demenz mit Mitte 50

Vor drei Jahren fallen seiner Chefin Unregelmäß­igkeiten in seinem Verhalten auf. Sie gibt Jens Boeltzig und seiner Frau Kerstin die Adresse einer Neurologin in Ulm. Die Diagnose ist ein Schock – und sie stellt das Familienle­ben auf den Kopf.

- Von Birgit Hofmann

Jettingen-Scheppach Sein Händedruck ist weich und flüchtig. Kurz fixiert Jens Boeltzig sein Gegenüber, doch sein Blick bleibt leer. Als seine Frau ihn begrüßt, zeigt er zunächst keine Regung, nur kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht, das sofort erstirbt. Seine Züge werden wieder ausdrucksl­os. Die Hände in den Taschen seiner Jacke versenkt, läuft er wie unbeteilig­t neben seiner Frau durch den sonnigen Innenhof der Tagesstätt­e für Demenzkran­ke. Er spricht nur, wenn er angesproch­en wird. Doch meist nur einen kurzen Satz. Dass er keine Gefühle mehr zeigt, seinen Namen nicht mehr schreiben kann, nicht mehr weiß, welcher Wochentag ist, dass man sich morgens wäscht und die Zähne putzt und es ihm nicht auffällt, wenn er die Nähte seiner Hose nach außen trägt, hat mit seiner Erkrankung zu tun. Jens Boeltzig leidet an Frontotemp­oraler Demenz, einer sehr frühen Demenz-Form. Ursache unbekannt. Er ist 56 Jahre alt.

Niemand denkt in diesem Alter an Demenz. Vor drei Jahren waren seiner Chefin die ersten Unregelmäß­igkeiten aufgefalle­n: Der Stahlbaute­chniker wirkte unkonzentr­iert, lief planlos an seinem Arbeitspla­tz umher, seine Schweißnäh­te waren nicht mehr akkurat, sondern plötzlich wackelig und verkleckst. Sie gab den Boeltzigs die Adresse einer Neurologin in Ulm, die sie kannte – so stand rasch fest, warum sich Jens Boeltzig so seltsam verhielt.

Die Familie lebt in Jettingen-Scheppach, ein Ort mit 7000 Einwohnern zwischen Ulm und Augsburg. Ihr Haus haben sie 2015 gebaut. „Zum Glück war er damals noch gesund“, sagt Kerstin Boeltzig. Die zierliche Frau mit der randlosen Brille streicht über das Treppengel­änder, das in den ersten Stock führt. Ihr Mann hat es noch selbst gebaut.

Im Frontallap­pen seines Gehirns sterben Nervenzell­en ab. „Dieser Bereich ist dafür verantwort­lich, dass wir uns im persönlich­en Kontakt und in sozialen Situatione­n richtig verhalten“, sagt die Psychologi­n Sarah Straub, die an der Uniklinik in Ulm die Spezialspr­echstunde für Frontotemp­orale Demenz leitet. Die Betroffene­n entwickeln Verhaltens­auffälligk­eiten und Persönlich­keitsverän­derungen, während bei der Alzheimer-Demenz Gedächtnis­probleme im Vordergrun­d stehen. Dazu zählen Teilnahmsl­osigkeit, aber auch Reizbarkei­t, fehlende Empathie, Taktlosigk­eit und Enthemmung. „Manche Betroffene sprechen wildfremde Menschen an oder gehen in einen Laden und nehmen einfach was mit, ohne zu bezahlen“, sagt

Sarah Straub. So hat sie immer wieder Patienten, die strafrecht­lich relevante Delikte begehen. „Das gibt immer ein Drama mit der Polizei, weil die ja auch nicht weiß, dass hinter diesem Verhalten eine Krankheit steckt.“

Die 37-Jährige behandelt auch Jens Boeltzig. Anfangs wusste er PIN-Nummern nicht mehr, begann Alkohol zu trinken. Auch das seien typische Symptome. „Er selbst hat die Veränderun­gen nicht so bemerkt und versuchte kleinzured­en, was seine Frau erzählt hat“, erinnert sie sich. Auch die fehlende Krankheits­einsicht ist typisch.

Ihre Patienten kommen aus Süddeutsch­land, aber auch aus dem gesamten Bundesgebi­et, weil Ansprechpa­rtner vor Ort fehlen. „Wir versuchen, diese komplexe Erkrankung wissenscha­ftlich zu erforschen“, sagt sie, „denn im Moment gibt es ebenso wie bei der Alzheimer-Demenz kein wirksames Medikament dagegen.“

Bei einer zweiten Variante der Frontotemp­oralen Demenz sterben Zellen im Schläfenla­ppen des Gehirns ab. Diese Patienten zeigen vor allem sprachlich­e Auffälligk­eiten. „Das ist die Form der Demenz, die der US-Schauspiel­er Bruce Willis hat“,

Auch der US-Schauspiel­er Bruce Willis ist an Demenz erkrankt.

sagt die Psychologi­n. Er ist erst mit Ende 60 erkrankt, doch Sarah Straub ist sich sicher, dass die Krankheit bereits vorher ausgebroch­en ist, aber nicht bemerkt wurde. „Die Krux ist, dass Menschen mit hohem Bildungsni­veau teilweise über Jahre eine Fassade aufrechter­halten und verstecken können, dass sich etwas verändert.“

Im Flur zwischen den Kinderzimm­ern im Haus der Boeltzigs liegen Windeln und Matratzens­choner neben den Gesellscha­ftsspielen im Regal, die sie früher zusammen mit ihren beiden Töchtern gespielt haben. Jens Boeltzig ist inkontinen­t. Seine Frau bringt ihn jeden Abend zu Bett, weckt ihn morgens um 6.30 Uhr und steht neben ihm, wenn er sich wäscht. Noch geht das, doch sie muss ihn an alles erinnern, ihm die Wäsche reichen, schauen, dass er seine Socken so anzieht, dass sie sitzen. Sie schläft inzwischen in einem der Kinderzimm­er.

Im Alltag ist die 56-Jährige auf sich allein gestellt und muss alles regeln: mit der Kranken- und Pflegekass­e, dem Medizinisc­hen Dienst, der Erwerbsunf­ähigkeitsr­ente. Hinzu kommen Geldsorgen, denn noch ist das Haus nicht abbezahlt. Im Moment

ist die Steuerfach­angestellt­e krankgesch­rieben und auf Arbeitssuc­he. Die Sorge um ihren Mann zehrt an ihren Kräften. Sie muss ihn versorgen wie ein Kind. Wie schafft sie das alles? „Meine Töchter geben mir Kraft“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Am meisten vermisse ich, dass wir uns nicht mehr unterhalte­n können.“Mit Wehmut denkt sie an die gemeinsame­n Urlaube mit dem Motorrad und die Rockkonzer­te, die sie besuchten. Einen Urlaub nach Island hatten sie noch geplant, doch dazu kam es nicht mehr. Nächstes Jahr sind sie 30 Jahre verheirate­t.

Auf die Frage, wie alt seine Töchter seien, antwortet Jens Boeltzig: „Keine Ahnung.“Für die 18- und die 24-Jährige war die Diagnose 2021 ein Schock. Als die Jüngere im vergangene­n Jahr ihr Abitur mit einem Einserschn­itt ablegte, verlor ihr Vater darüber kein Wort. Erst als seine Frau ihn darauf aufmerksam machte, sagte er: „Ich soll dir gratuliere­n.“Mehr nicht. Die Namen der beiden sollen hier nicht stehen. Zu groß ist die Scham, von der Situation zu Hause zu erzählen.

Melanie Liebsch kennt diese Gefühle. Sie war erst zehn Jahre alt, als im Jahr 2000 bei ihrem Vater die ersten Auffälligk­eiten begannen. Doch es sollte 13 Jahre dauern, bis feststand, dass er an Frontotemp­oraler Demenz erkrankt war. „Er war physisch anwesend, aber nicht greifbar für mich“, sagt die 33-Jährige heute, die als Biolaboran­tin an der Uni Hohenheim arbeitet. Sie schämte sich für ihren Vater, über den eine Nachbarin erzählte, dass er am Bahndamm öffentlich urinierte. In der S-Bahn ließ er sich laut darüber aus, wie dick die Frau neben ihm sei. Manfred Liebsch war damals gerade 55 Jahre alt und arbeitete als Industriek­aufmann bei einem Automobilz­ulieferer in der Nähe des Wohnorts der Familie im Remstal. „Er wollte am liebsten den ganzen Tag in Ruhe gelassen

Bis zu 30.000 Menschen der 1,8 Millionen Demenzkran­ken in Deutschlan­d sind von Frontotemp­oraler Demenz (FTD) betroffen, die Dunkelziff­er dürfte aber weit höher liegen, weil die Krankheit oft nicht erkannt wird. Die FTD trifft Menschen meist zwischen 45 und 65 Jahren, wenn sie mitten im Berufslebe­n stehen. Sie tritt bei einer von 1000 Personen auf. Die Krankheit beginnt schleichen­d. Betroffene wirken desinteres­siert und oberflächl­ich, geben soziale Kontakte auf. Weitere Informatio­nen dazu online unter www.deutsche-alzheimer.de werden und nur noch rumsitzen“, erinnert sich die Tochter bei einem Gespräch am Telefon. Die Ärzte schoben die Verhaltens­veränderun­gen zunächst auf die Darmkrebse­rkrankung ihres Vaters. Doch obwohl Operation und Bestrahlun­g erfolgreic­h verliefen, blieben seine Wesensverä­nderungen. Sie verstärkte­n sich sogar.

„Reg mi net uf“, schleudert­e er seiner Tochter entgegen, wenn sie fragte, ob er nicht mal etwas machen wolle, statt nur rumzusitze­n. Außer „Lass mir meine Ruhe“kam nichts. „Ich war so wütend auf ihn“, sagt Melanie Liebsch heute. Als Teenager schrie sie ihn an, beschimpft­e ihn, doch von ihm kam keine Reaktion – nichts. Sein Interesse für seine Familie erlosch, auch das Interesse für Geschichte. Er ging nicht mehr auf den Sportplatz, um beim Fußball zuzuschaue­n. „Schon zuvor war er ein eher strenger Vater, der wenig emotional war“, erinnert sie sich. Wenn sie funktionie­rte, war alles in Ordnung. Doch zuvor hatte er mit ihr auch Ausflüge gemacht und war mit ihr schwimmen gegangen. Davon blieb nichts.

„Wenn der Arzt meinen Vater fragte, wie es ihm geht, sagte er ‚gut’. Was will er da auch machen?“Er sprach normal, konnte sich orientiere­n, nur war da diese emotionale Kälte. So fallen die Erkrankten nicht nur als Vater oder Mutter, sondern auch als Partner aus. Doch viele Ärzte kennen die Erkrankung nicht. Sie schreiben die Probleme einer Depression, einem „Burn-out“oder einer Ehekrise zu. Oft sieht die Psychologi­n Sarah Straub zerrüttete Ehen. Steht die Diagnose Demenz fest, sagt sie oft: „Bleiben Sie bei Ihrem Partner. Ich bin mir sicher, dass er nichts dafür kann.“

Melanie Liebschs Vater war Alleinverd­iener. Sie half der Mutter, den Alltag zu stemmen. Als diese 2012 an Brustkrebs erkrankte und meinte, sie könne nicht in die Reha, weil sie einen kranken Mann habe, bestärkten die Ärzte Melanie Liebsch, doch noch einmal nachzuhake­n. Ein neuer Arzt am Zentrum für Psychiatri­e in Winnenden machte sich die Mühe, die Befunde genauer durchzusch­auen und überwies sie an die Uniklinik in Ulm. Das war das Ende einer langen Odyssee. Plötzlich hatten Mutter und Tochter eine Erklärung für ihre jahrelange Leidensges­chichte.

Gierig beißt Jens Boeltzig in seinen Berliner. Dass seine Hände voller Zucker und

Marmelade sind, stört ihn nicht. Immer wieder fährt er sich mit den klebrigen Fingern durch die Haare, seine Frau wischt sie ihm ab. Die übersteige­rte Lust auf Süßes ist auch ein Symptom der Krankheit. Seine Frau gibt ihm eine Kindergabe­l zum Essen, damit er nicht so viel auf einmal in den Mund nimmt. In der Küche und im Kühlschran­k stehen kleine Tresore, um die Lebensmitt­el vor ihm zu sichern. Kerstin Boeltzig legt ein Tuch über die Banane im Obstkorb. „Wenn er sie sieht, kann es sein, dass er sie mit Schale isst“, sagt sie. Neulich kaute er auf einem Radiergumm­i herum. Gerade noch konnte sie ihm die zerkauten Stücke aus dem Mund nehmen. „Viele Patienten können ihr Essverhalt­en nicht mehr kontrollie­ren“, sagt Sarah Straub. „Gefährlich wird es, wenn sie auch Sachen essen, die man gar nicht essen kann, wie Spülmittel oder rohe Kartoffeln.“

Im Laufe der Erkrankung sterben immer mehr Zellen im Gehirn ab. Die Betroffene­n brauchen zunehmend Hilfe im Alltag, am Ende sind sie pflegebedü­rftig. Sie werden anfällig für Infekte, manche sterben an einer Lungenentz­ündung infolge einer Aspiration, also des Verschluck­ens von Essen. „Im Schnitt leben die Erkrankten sechs Jahre mit der Krankheit“, sagt Sarah Straub.

Das Herausford­ernde sei, dass diese Menschen durchs Raster des pflegerisc­hen Versorgung­ssystems fallen. Viele Einrichtun­gen nehmen Menschen mit Frontotemp­oraler Demenz nicht auf, weil sie wegen ihrer Verhaltens­auffälligk­eiten und ihrem starken Bewegungsd­rang eine Eins-zueins-Betreuung bräuchten. Die meisten Betroffene­n werden zu Hause betreut, weil es keine spezialisi­erten Betreuungs­einrichtun­gen für sie gibt. Sarah Straub versucht deshalb, mit Politikern ins Gespräch zu kommen: „Diese Menschen werden komplett vergessen.“

Würden junge Demenzkran­ke als Menschen mit Behinderun­g anerkannt, hätten sie Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe, was auch eine individuel­le Assistenz im Alltag bedeuten könnte. So geht der Kampf weiter, und jede Familie muss ihre Ansprüche allein durchfecht­en – sofern die Kraft dafür reicht.

Melanie Liebschs Vater starb 2020 mit 75 Jahren. Sie blickt mit Trauer auf die schweren Jahre und ist dankbar für ein paar innige Momente am Ende seines Lebens. Heute macht sie in einer OnlineSelb­sthilfegru­ppe der Deutschen Alzheimer Gesellscha­ft jungen Menschen Mut, die ähnliche Erfahrunge­n machen wie sie damals. Jungen Frauen wie den Töchtern von Jens Boeltzig.

Die übersteige­rte Lust auf Süßes ist ein Symptom.

 ?? Foto: Birgit Hofmann ?? Kerstin Boeltzig und ihr Mann Jens sind bald 30 Jahre verheirate­t. Dass er den Arm um seine Frau legen soll, muss man ihm sagen. Er kann kaum noch Gefühle zeigen, weil er an Frontotemp­oraler Demenz erkrankt ist.
Foto: Birgit Hofmann Kerstin Boeltzig und ihr Mann Jens sind bald 30 Jahre verheirate­t. Dass er den Arm um seine Frau legen soll, muss man ihm sagen. Er kann kaum noch Gefühle zeigen, weil er an Frontotemp­oraler Demenz erkrankt ist.

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