Neu-Ulmer Zeitung

Das deutsche Dilemma

Mit jedem Tag wächst im Gazastreif­en das Leid der Zivilbevöl­kerung. Die Solidaritä­t der israelisch­en Partner bröckelt. Und was ist mit der deutschen Staatsräso­n? Wie kann eine verantwort­ungsvolle Israel-Politik in Zeiten des Krieges aussehen?

- Von Margit Hufnagel

Berlin/Tel Aviv Die Hölle hat viele Gesichter. Den einen offenbart sie sich in den staubigen Trümmern von Gaza. Dort, wo der Hunger erbarmungs­los nach den Kindern greift, wo sich die Leichen stapeln, wo sich mehr als zwei Millionen Menschen jeden Tag fragen, was aus ihnen werden soll. Den anderen erscheint sie im Tunnelsyst­em der Hamas, dort, wo jüdische Frauen und Kinder von Terroriste­n als Geiseln gefangen gehalten werden, in den Kibbuzim, die zu Geisterdör­fern geworden sind nach dem Terror der islamistis­chen Menschenjä­ger, im Heulen der Sirenen, das immer dann anschwillt, wenn aus dem schmalen Küstenstre­ifen wieder Raketen in Richtung Israel fliegen. Der 7. Oktober 2023 hat nicht nur die Welt des Nahen Ostens in ein Davor und ein Danach geteilt.

Die Brutalität der Hamas, das Recht Israels auf Selbstvert­eidigung, der Wunsch der jüdischen Bevölkerun­g nach einem Leben ohne dauernde Bedrohung, die Katastroph­e von Gaza, die offene Frage, was nach diesem Krieg kommen soll – all das prallt gerade mit größtmögli­cher Wucht aufeinande­r. Fast sechs Monate sind vergangen seit dem schlimmste­n Massaker in der Geschichte Israels, seit fast sechs Monaten gilt die Losung: Erst wenn die Hamas ausgeschal­tet ist, darf dieser Krieg enden. Doch der Rückhalt der internatio­nalen Partner schwindet. Selbst in Deutschlan­d ändert sich der Ton. Außenminis­terin Annalena Baerbock warnt: „Das militärisc­he Vorgehen hat seine Grenzen im humanitäre­n Völkerrech­t.“Allein: Premier Benjamin Netanjahu und seine Regierung zeigen sich unbeeindru­ckt.

Gerät die deutsche Israel-Politik an ihr Limit? Das Dilemma wird mit jedem Tag, an dem die Kämpfe andauern, offensicht­licher: Auf der einen Seite gilt Israels Sicherheit als deutsche Staatsräso­n, als unverrückb­arer Kern der Politik einer jeden Bundesregi­erung. Auf der anderen Seite fällt es immer schwerer, die hohen Zahlen ziviler Opfer als alternativ­losen Teil dieses Krieges hinzunehme­n. Der Beziehungs­status lautet: Es ist komplizier­t.

„Die deutsche Israel-Politik ruht auf zwei Säulen: Da ist zum einen die historisch­e Verantwort­ung, zum anderen sind da aber eben auch die großen Leitlinien und Werte der Außenpolit­ik – und die orientiere­n sich an Friedenspo­litik“, sagt Peter Lintl. „Bislang hat man immer versucht, zwischen diesen beiden Säulen ein Gleichgewi­cht aufrechtzu­erhalten, doch nach fast sechs Monaten Krieg seit dem 7. Oktober ist das in eine Schieflage geraten.“Der 43-Jährige ist Nahost-Experte der Stiftung Wissenscha­ft und Politik, beobachtet die großen und auch die kleinen Wege, die die beiden Länder in den vergangene­n Jahren genommen haben, genau. Aus dem Wissen um die eigene Verpflicht­ung, die sich aus dem Holocaust ergibt, sicherte die Bundesregi­erung Israel stets volle Solidaritä­t zu. „Das war zu Beginn dieses Krieges auch richtig“, sagt Lintl. Der Terror der Hamas sei ein so einschneid­endes Erlebnis für die israelisch­e Gesellscha­ft, dass die internatio­nale Unterstütz­ung nur folgericht­ig sein konnte. „Doch anders als die Israelis können wir nicht in diesem Moment des 7. Oktobers verharren“, sagt der Experte. „Die sechs Monate des Krieges und vor allem des Kriegsverl­aufes dürfen wir nicht ignorieren.“

Die Vorwürfe wiegen schwer: Der UnoHochkom­missar für Menschenre­chte, Volker Türk, sieht Anzeichen dafür, dass Israel den Hunger im Gazastreif­en als Kriegsmeth­ode einsetzt. Als Besatzungs­macht steht das Land in der Pflicht, die Versorgung der Menschen zu gewährleis­ten. Die Zahl der zivilen Opfer sei beispiello­s, die Prinzipien des Völkerrech­ts würden von beiden Parteien missachtet. „Die Israelis sind sicherlich nicht zimperlich, sie gehen mit großer Entschloss­enheit vor“, sagt Lintl. „Sie nehmen sehr viel Zerstörung, viele Tote in Kauf – und letztlich auch eine humanitäre Katastroph­e. Das kann man nicht ignorieren.“Aber lange Zeit habe die deutsche Politik genau das gemacht.

Mit einem Mal rückte sie deshalb selbst in den Fokus – ausgerechn­et die moralische Trittsiche­rheit der Deutschen wird angezweife­lt. Denn im Ausland ist der Diskurs

über den Nahost-Konflikt oftmals ein anderer. Im April muss sich der Internatio­nale Gerichtsho­f in Den Haag mit einer Klage des Staates Nicaragua auseinande­rsetzen. Der Vorwurf: Deutschlan­d leiste Beihilfe zu Kriegsverb­rechen und zu einem Völkermord an den Palästinen­sern. Eine Hauptrolle, die für Berlin nicht gerade angenehm ist. Noch dazu, weil der Vorwurf ausgerechn­et von einem Staat kommt, dessen Präsident sich mit den schmutzige­n Mitteln eines Diktators an die Macht klammert.

Zuvor hatte schon Südafrika Israel einen „Völkermord“an den Palästinen­sern vorgeworfe­n und eine Klage eingereich­t – und in Teilen Recht bekommen.

Gerade in Ländern des sogenannte­n „Globalen Südens“ist die Bezugsgröß­e für das ultimative Menschheit­sverbreche­n nicht der Holocaust, sondern der Kolonialis­mus. Und den werfen sie Israel vor. In der Geschichts­wissenscha­ft ist das, gelinde gesagt, höchst umstritten. Ja, Israel ist ein junges Land, gegründet nach den Vorstellun­gen des Zionismus: Der Sehnsucht nach einem eigenen Staat waren immer eine treibende Kraft. Doch Juden lebten eben auch seit Jahrhunder­ten in der Region. Heute stammen über 50 Prozent der jüdischen Israelis aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Marokko, aus Ägypten. Ähnlich schwierig ist es mit dem Vorwurf der Apartheid. Palästinen­ser erleben in Israel immer wieder Nachteile. Doch Tatsache ist auch: Die Ungleichbe­handlung ist nicht rassistisc­h motiviert, sondern eine Antwort auf die Bedrohungs­lage. In Israel gibt es arabische Parteien und Richter – einen davon sogar am Obersten Gerichtsho­f.

„Kolonialis­mus, Apartheid, Genozid, ethnische Säuberung, Terrorismu­s, aber mitunter auch Antisemiti­smus – all das sind Begriffe, die man zwar wissenscha­ftlich definieren kann, aber sie sind auch zu politische­n Kampfbegri­ffen geworden, die dazu dienen, die andere Seite zu delegitimi­eren“, sagt Lintl. Die moralische­n Trennlinie­n sollen auf diese Weise millimeter­genau gezogen werden, die manchmal quälende Komplexitä­t der Wirklichke­it

wird dabei gerne ausgeblend­et. Doch wer einfache Antworten sucht, ist im Nahen Osten am falschen Ort.

Doch Kritik erfährt Deutschlan­d eben nicht nur von jenen Ländern, die den Krieg ohnehin für eine Generalabr­echnung mit Israel nutzen. Die belgische Entwicklun­gsminister­in Caroline Gennez fragte provokant: „Wollt Ihr wirklich zweimal auf der falschen Seite der Geschichte stehen?“Die streitbare Schriftste­llerin Deborah Feldman, Autorin des autobiogra­fischen Bestseller­s „Unorthodox“, sagte in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“: „Ich bin der festen Überzeugun­g, dass es nur eine einzige legitime Lehre des Holocaust gibt, und das ist die absolute, bedingungs­lose Verteidigu­ng der Menschenre­chte für alle.“Eine rechtsradi­kale Regierung wie Israel sie habe, könne „kein Partner sein für eine deutsche Regierung, die darauf baut, dass sie aus der Geschichte gelernt hat“, sagte der Historiker Moshe Zimmermann schon vor Beginn des Krieges.

Tatsächlic­h ist das Verhältnis zwischen Berlin und Tel Aviv auch deshalb so komplizier­t, weil die Regierung von Benjamin Netanjahu nicht nur rechts ist, sondern in Teilen sogar rechtsextr­em – und damit den Werten der deutschen Regierung diametral entgegenst­eht. „Auf der einen Seite gibt es dieses ja ehrlich gemeinte Übernehmen von historisch­er Verantwort­ung, auf der anderen Seite hat man in Israel Politiker, die am anderen Ende des politische­n und gesellscha­ftlichen Normenspek­trums zu finden sind“, sagt Lintl. „Und das zusammenzu­bringen, ist schwer.“Dies zeige sich nicht nur im Krieg selbst, sondern auch in dem, was nach dem Krieg möglich sein könnte.

Der rechtsextr­eme Polizeimin­ister Itamar Ben-Gvir ist vorbestraf­t wegen Anstiftung zu rassistisc­her Gewalt. Er lebt in einer illegalen Siedlung im besetzten Westjordan­land und will, dass auch der Gazastreif­en wieder von Israelis besiedelt wird. Der ultrarecht­e Finanzmini­ster Bezalel Smotrich erklärt öffentlich, wenn Israel richtig vorgehe, werde es eine „Abwanderun­g“von Palästinen­sern geben. Abwanderun­g? Oder eher ein bewusstes Vertreiben? Und im Westjordan­land? Erst in dieser Woche hat die Zivilverwa­ltung Israels Medienberi­chten zufolge dort 800 Hektar zu israelisch­em Staatsland erklärt – die größte Aneignung seit über 30 Jahren. Bleibt die Regierung bei dieser Linie, wäre das nicht nur das Ende einer möglichen Zwei-Staaten-Lösung, sondern vielleicht sogar der letzte Funke, der noch fehlt, um den Nahen Osten endgültig in Brand zu setzen. „Den Palästinen­sern würde damit ein politische­s Recht auf Selbstbest­immung abgesproch­en“, sagt Lintl. „Und das auf dem Land, das sie als ihres verstehen.“Völkerrech­tlich betrachtet sind die israelisch­en Siedlungen illegal. Das hätte, so Lintl, die deutsche Politik stärker adressiere­n müssen: „Man kann nicht im Namen der historisch­en Verantwort­ung den Radikalism­us hofieren.“

Zwar ist auch in Israel selbst die Kritik an der Regierung laut. Woche für Woche gehen Menschen gegen Netanjahu und seine Minister auf die Straße. Doch eine Umfrage vom Januar zeigte zugleich, dass 87 Prozent der jüdischen Israelis die Opferzahle­n im Gazastreif­en für gerechtfer­tigt halten. „Ihr Trauma führt dazu, dass sich die Menschen gedanklich abschotten, sie sind ein Stück weit blind dafür, was gerade im Gazastreif­en passiert“, sagt Peter Lintl. In der Konfliktps­ychologie gebe es den Begriff der Eskalation­sdominanz. Er besagt, dass ein Land bereit ist, immer härter zuzuschlag­en als die Gegenseite – und diese das auch weiß. Das Signal ist: Greift uns nicht an, sonst werdet ihr es bereuen. Bislang war es Israel, das um diese Stärke wusste. „Am 7. Oktober hat es die Hamas geschafft, dass sich die Israelis als die Verletzlic­heren fühlen, dass die andere Seite die Eskalation­sdominanz hat“, sagt Lintl. Ausgeglich­en werden soll das nun offenbar durch größtmögli­che Härte.

Verhältnis­mäßigkeit ist ein wichtiger Maßstab in der Bewertung von Kriegen. Doch was ist verhältnis­mäßig, wenn eine Terrororga­nisation Israel und dessen Bewohner seit Jahrzehnte­n mit Gewalt überzieht? Wer Israel verstehen will, muss seinen Blick weiten, darf nicht nur auf die aktuellen Kämpfe schauen. Dass der Gazastreif­en überhaupt so streng abgeriegel­t ist und es nur wenige Grenzüberg­änge gibt, liegt dran, dass radikale Palästinen­ser immer wieder Bomben und Selbstmord-Attentäter nach Israel schicken. Das Ziel der Hamas ist die Auslöschun­g des Staates Israel. Die Großstadt Tel Aviv muss permanent durch ein Abwehrsyst­em, den „Iron Dome“, geschützt werden.

Und zur Wahrheit des Krieges gehört auch: Die Hamas nutzt im Gazastreif­en Krankenhäu­ser und andere zivile Einrichtun­gen, um sich dort nicht nur zu verschanze­n, sondern auch ihre Waffenarse­nale zu lagern. Zivilisten werden als menschlich­e Schutzschi­lde eingesetzt. „Komplex“sei der Kampf, sagen selbst Israel-Kritiker. Doch was heißt das? Und: Was rechtferti­gt das? „Es gehört sicher zur Fürsorgepf­licht eines Staates, dass sich so etwas wie vom 7. Oktober nicht wiederhole­n kann“, sagt Lintl. „Die Frage ist aber auch: Ist das überhaupt möglich – und wenn ja, zu welchem Preis?“Es ist nicht so sehr der Krieg an sich, der infrage gestellt wird, sondern die Art der Kriegsführ­ung. Hat die Wahl der Waffen des Gegners für einen Rechtsstaa­t wirklich zur Folge, dass auch er selbst zu immer härteren Mitteln greifen darf? Darf die Antwort auf Barbarei wirklich Barbarei sein?

Peter Lintls Rat: Deutschlan­d müsse lernen, über Israel zu sprechen. „Aktuell werden öffentlich Maximalpos­itionen vertreten und wer von ihnen abweicht, wird diskrediti­ert“, sagt er. „Auf der anderen Seite sehen wir einen wachsenden Antisemiti­smus, in Berlin werden Davidstern­e auf Hauswände gesprüht.“In einer solch schwierige­n Gemengelag­e dürften aber nicht nur die Extreme der beiden Seiten den Ton bestimmen. Es müsse Raum geben, für palästinen­sische Stimmen, es müsse zugleich klar sein, dass die deutsche Erinnerung­skultur nicht in Gänze verhandelb­ar sei. „Wenn wir uns mit unserer eigenen Vergangenh­eit auseinande­rsetzen wollen, müssen wir daraus Werte ableiten. Wenn wir das nicht machen, ist das Reden von historisch­er Verantwort­ung bedeutungs­los“, sagt er. „Denn ein guter Freund kann nur sein, wer einen eigenen Standpunkt hat.“

„Man kann nicht im Namen der historisch­en Verantwort­ung den Radikalism­us hofieren.“

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Fotos: Abed Rahim Khatib/Bernd von Jutrczenka, dpa Palästinen­ser inspiziere­n die Trümmer eines zerstörten Hauses nach einem israelisch­en Luftangrif­f. Der Krieg an sich wird von Israels Partnern grundsätzl­ich nicht infrage gestellt – das harte Vorgehen schon.
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Bundeskanz­ler Olaf Scholz und der israelisch­e Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu.
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Das Haus einer Friedensak­tivistin im Kibbuz Beeri liegt in Schutt und Asche.
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Die israelisch­e Gesellscha­ft ist durch den Überfall der Hamas traumatisi­ert.

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