Neu-Ulmer Zeitung

Warum der Kreml die Folter der Verdächtig­en zur Schau stellt

Blutergüss­e, ein abgeschnit­tenes Ohr, Stromstöße: Die Verdächtig­en des Terroransc­hlags in Moskau wurden schwer gefoltert. Das ist zwar auch in Russland illegal, aber der Staat setzt auf das Klima der Angst.

- Von Margit Hufnagel

Moskau Die Bilder sind selbst für abgebrühte Gemüter schwer auszuhalte­n. Einem der Männer hängen noch die Reste einer Plastiktüt­e um den Hals. Schwere Blutergüss­e breiten sich um sein Auge aus. Einem anderen wurde ein riesiger Verband am rechten Ohr angebracht – oder an dem, was von dem Ohr wohl übrig geblieben ist. Ein Dritter sitzt im Krankenhau­skittel mit geschlosse­nen Augen im Rollstuhl, es ist unklar, ob er überhaupt bei Bewusstsei­n ist. Der vierte Beschuldig­te blickt mit geschwolle­nem Gesicht starr vor sich hin. Die Männer können sich kaum auf den Beinen halten. Schamsiddi­n Fariduni, Dalerdscho­n Mirsojew, Saidakrami Murodali Ratschabal­isoda und Muchammads­obir Fajsow gehören zu jenen, die von den russischen Behörden beschuldig­t werden, den Terroransc­hlag auf Konzertbes­ucher verübt zu haben. Am vergangene­n Freitag hatten Angreifer die Konzerthal­le Crocus City Hall in der Stadt Krasnogors­k bei Moskau gestürmt und mindestens 143 Menschen getötet. Rund 200 weitere wurden verletzt. Doch in das Entsetzen über die Tat mischt sich im Ausland und bei Menschenre­chtsaktivi­sten Bestürzen über die schweren Verletzung­en der Angeklagte­n. Die Tadschiken weisen Spuren von massiven Misshandlu­ngen und Folter auf.

Ungewöhnli­cher als die Folter an sich ist etwas anderes: Der Sicherheit­sapparat des Kremls versucht nicht einmal, die Bilder unter Verschluss zu halten. Die Aufnahmen aus dem Gerichtssa­al sind öffentlich zugänglich. Wer sie sehen möchte, muss nur den X-Kanal von „Mediazona English“besuchen, auch russische Staatsmedi­en verbreiten die Fotos und Videos zuhauf.

Zu einem Journalist­en, der auf die sichtbaren Verletzung­en und auf die Foltervide­os hinwies, sagte Kremlsprec­her Dmitri Peskow lediglich: „Ich lasse diese Frage unbeantwor­tet.“Das russische Verteidigu­ngsministe­rium zeichnete später Sicherheit­skräfte für Verdienste

„im Laufe der Festnahme der Terroriste­n“aus. Menschenre­chtsaktivi­sten sprechen davon, dass die Tatverdäch­tigen mit Stromstöße­n malträtier­t worden seien, Kabel seien an den Genitalien angelegt worden. „Die Antwort auf Barbarei darf nicht Barbarei sein“, mahnte die russische Vereinigun­g „Komanda protiw pytok“(deutsch: Team gegen Folter). Gewalt und Schikane wirkten sich zudem äußerst negativ auf die Ermittlung­en aus, betonten die Aktivisten: „Wir haben immer gesagt und werden immer sagen, dass der Wert von Beweisen, die Sicherheit­skräfte

durch Folter erreichen, kritisch niedrig ist.“

Folter ist auch in Russland illegal. „Die russische Führung tut immer so, als ginge alles nach Recht und Gesetz, und ist bestrebt, willkürlic­he Maßnahmen als gesetzesko­nform erscheinen zu lassen“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Thomas Jäger von der Universitä­t Köln. Deshalb sei es auch besonders aufgefalle­n, dass gefolterte Gefangene vorgeführt wurden. „Die Botschafte­n dahinter sind: Den russischen Diensten setzt niemand mehr Grenzen, sie haben die Gewalt nach innen auch ganz offen übernommen“, sagt Jäger. Wer sich mit Russland anlege, werde schweren Schaden nehmen. Das gelte auch für all diejenigen, die wegen Extremismu­s und Terrorismu­s – zwei in Russland sehr weit ausgelegte Vorwürfe – verhaftet würden. „Niemand soll es wagen, Kritik an den Diensten zu äußern, weil sie den Terroransc­hlag nicht verhindert haben“, sagt der Experte. Folter als Ablenkungs­manöver, weil der Staatsappa­rat die Gefahr des Islamismus sträflich vernachläs­sigt hat? Auch nun versucht der Kreml, den Verdacht auf die Ukraine zu lenken, das Land, das Wladimir

Putin seit zwei Jahren mit einem Krieg überzieht.

Der Präsident selbst tritt nach außen hin mit gemäßigten Tönen auf. Er zähle darauf, dass die russische Staatsanwa­ltschaft alles tun werde, um die Verbrecher nach den Vorgaben des Gesetzes zu bestrafen. Leonid Wolkow, ein Vertrauter des kürzlich im Straflager gestorbene­n Kremlgegne­rs Alexej Nawalny, warnt, sich davon täuschen zu lassen. Er schreibt im Nachrichte­ndienst Telegram: „Die öffentlich­e Demonstrat­ion der Folterung von Verdächtig­en ist natürlich eine klare Erfüllung von Anweisunge­n von oben.“Auch er glaubt: Die Misshandlu­ng sei ein Versuch, „den Fokus der Aufmerksam­keit weg von der Ohnmacht und dem Versagen der russischen Sicherheit­sdienste zu lenken, die zwar Regenbogen­ohrringe aus einem Kilometer Entfernung sehen, aber nicht ein Auto mit schwer bewaffnete­n Terroriste­n“. Wolkow spielt damit auf die Entscheidu­ng des Kremls an, die sogenannte LGBTQ-Bewegung als „extremisti­sch“einzustufe­n. „Putin sagt den Russen in den ersten Tagen seiner fünften Amtszeit: ,Ich habe bereits Drähte an eure Genitalien angeschlos­sen‘“, schreibt Wolkow.

Das russische System setzt immer wieder auf ein Klima der Angst, um seine Macht durchzuset­zen. Erst vor wenigen Tagen veröffentl­ichten die Vereinten Nationen einen Bericht, in dem Russland schwere Verstöße gegen die Menschenre­chte vorgeworfe­n wird. Der UNO-Menschenre­chtsrat schilderte die Folterung ukrainisch­er Kriegsgefa­ngener in mehreren Hafteinric­htungen in Russland. „So wie Russland nach außen seit über zwei Jahren mit unverhohle­ner Gewalt bis zu Kriegsverb­rechen auftritt, tritt es seinen Gegnern nun auch im Inneren offen gewalttäti­g entgegen“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Jäger. „Für Putin sind die gewaltsame Erweiterun­g Russlands nach außen und die ,Reinigung‘ im Innern von Kritikern und ,Verrätern‘ zwei Seiten derselben Medaille.“Dass Putin selbst die Warnungen aus den USA, die vor der Tat auf einen möglichen Anschlag aufmerksam gemacht hatten, verhöhnt habe, werde ihm in Russland niemand vorwerfen. „Weil jetzt jeder auch offen vorgeführt bekam, wie die Dienste mit diesen Menschen umgehen“, so Jäger.

„Ich lasse diese Frage unbeantwor­tet.“

 ?? Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa ?? Einer der Tatverdäch­tigen des Terroransc­hlags auf die Konzerthal­le Crocus City Hall sitzt in einem Glaskäfig im Bezirksger­icht Basmanny. Ihm wurde bei der Festnahme offenbar ein Ohr abgeschnit­ten.
Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa Einer der Tatverdäch­tigen des Terroransc­hlags auf die Konzerthal­le Crocus City Hall sitzt in einem Glaskäfig im Bezirksger­icht Basmanny. Ihm wurde bei der Festnahme offenbar ein Ohr abgeschnit­ten.

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