Bei den Deutschen in Rumänien
„Die Unschärfe der Welt“erzählt vom nicht immer beschaulichen Leben einer Pfarrersfamilie auf einem Dorf im Banat. Das Buch der Schriftstellerin Iris Wolff ist der kommende neue Tagesroman unserer Zeitung.
Es schneit seit Tagen, ein Auto steht nicht zur Verfügung, also steckt Hannes einem vorbeiziehenden Händler Geld zu, auf dass der mit seinem Pferdeschlitten die schwangere Florentine, Hannes’ Frau, zum nächstgelegenen Bahnhof befördert, wo Florentine den Zug nimmt in die Stadt mit der Geburtsklinik. So beginnt Iris Wolff ihren Roman „Die Unschärfe der Welt“, und der Ton, den sie dabei anschlägt, dieses genaue Erfassen von Stimmungen, das unaufgeregte Schildern auch dort, wo es dramatisch zugeht, ist ein Kennzeichen dieser Schriftstellerin.
Angesiedelt ist die Geschichte im rumänischen Banat, der vielfach von Deutschen besiedelten Region im Westen des Landes. Auch Hannes, der junge evangelische Pfarrer im Dorf, und seine Frau Florentine haben deutsche Wurzeln. Als Florentine ihren Sohn Samuel zur Welt bringt, ist es Ende der 1960er-Jahre. Doch die Erzählung, die vier Generationen umfasst, verläuft im Roman nicht chronologisch. Mal geht es zurück in die 30er-Jahre zu Karline, der
Mutter von Hannes – auch seine Geburt verläuft unter ausgesprochen ungewöhnlichen Umständen –, dann wieder springt das Geschehen vor in die Zeit des sich auflösenden Ostblocks der Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Iris Wolff erzählt vom Leben auf dem Land, von den Genüssen des Sommers und den Wintern, wo man mit dem Schneeschippen nicht nachkommt, aber auch vom Leben in einer Diktatur, wo der nächste Spitzel nie weit ist und die Staatssicherheit mit ihren Zudringlichkeiten selbst an abgelegenen Orten die Menschen nicht verschont. Jedes der sieben Kapitel des Buches kreist um eine andere Figur der Familie von Hannes, Florentine, Samuel und deren Nachbarn und Freunden. Der Pfarrhof ist dabei das stille geografische Zentrum, ein Ort, an dem sich alle irgendwann einfinden, und sei es, um zu gehen. Samuel flieht mit seinem Freund noch vor dem Ende des Ceausescu-Regimes nach Deutschland, schlägt hier neue Wurzeln. Doch die Erinnerung an die stille Welt seines Heimatdorfs bleibt in ihm lebendig. Iris Wolff wurde selbst in Rumänien geboren, im siebenbürgischen Hermannstadt,
und verbrachte ihre Kindheit dort und im Banat. Als sie acht Jahre alt war, wanderte ihre Familie 1985 nach Deutschland aus. Wolff, deren in diesem Frühjahr erschienener neuer Roman „Lichtungen“gerade viel Beachtung findet, zählt seit einigen Jahren zu den bemerkenswertesten deutschsprachigen Schriftstellerinnen ihrer Generation. „Die Unschärfe der Welt“, ihr vierter, 2020 veröffentlichter Roman, war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Jetzt, von Ostersamstag an, ist „Die Unschärfe der Welt“der neue Tagesroman unserer Zeitung.