Neu-Ulmer Zeitung

Nagelsmann­s Luxusprobl­em

Die deutsche Nationalma­nnschaft macht auf einmal wieder Spaß. Für einige Spieler ist das eine schlechte Nachricht.

- Von Tilmann Mehl

Frankfurt am Main Eines der wenigen Probleme sprach Toni Kroos direkt nach dem Spiel an. Die schlechte Nachricht nach dem Sieg der deutschen Nationalma­nnschaft gegen die Niederland­e sei, dass er „im Turnier keine Punkte bringt“. Das Turnier ist die EM in zweieinhal­b Monaten im eigenen Land und einzig darauf sind die Planungen von Kroos ausgelegt. Dass der 34-Jährige über den Sommer hinaus das Trikot der Nationalma­nnschaft trägt, ist unwahrsche­inlich. Er ist wohl der prominente­ste Projektarb­eiter im Team von Julian Nagelsmann.

Dass ein Erfolg über den Nachbarn aus den Niederland­en keine Zähler einbringen würde, war selbstvers­tändlich schon vor dem Anpfiff klar. Der Sieg aber brachte der neu zusammenge­stellten Mannschaft etliche Erkenntnis­se, die für den Turnierver­lauf möglicherw­eise genauso wertvoll sein könnten wie Punkte. Schließlic­h kann die Mannschaft mit einem

Gefühl in die Vorbereitu­ng auf das Heim-Event gehen, das ihr lange Zeit unbekannt war: Sie befindet sich auf einem guten Weg.

Innerhalb nur eines Lehrgangs hat Nagelsmann geschafft, woran seine Vorgänger Hansi Flick und Joachim Löw gescheiter­t sind. Er hat seiner Mannschaft eine klare Spielidee vermittelt und zudem jedem Akteur offensicht­lich überzeugen­d erklärt, wie er helfen kann, diese Idee mit Leben zu füllen. Dabei war der 2:1-Erfolg gegen die Niederländ­er mindestens genauso wichtig wie der Sieg wenige Tage zuvor gegen die Franzosen. Beim Auswärtser­folg in Lyon gelang der Mannschaft beinahe alles, angefangen beim Führungsto­r nach lediglich acht Sekunden. In Frankfurt wiederum gelang dem Team bei Weitem nicht alles. Allerdings lehnte sich die Auswahl beeindruck­end gegen alle Probleme auf, die ihr das Spiel in den Weg stellte. Da war der frühe Gegentreff­er nach einem Fehler von Maximilian Mittelstäd­t. Zudem war der Rasen in einem Zustand, der laut Nagelsmann „wirklich Katastroph­e“

war. Vor allem der sonst so elegante Pirouetten­dreher Musiala landete ähnlich oft auf allen vieren wie ein Eiskunstlä­ufer beim Einstudier­en eines neuen Sprungs. In der zweiten Halbzeit fehlte es dem Team zudem beinahe eine halbe Stunde lang am Zugriff auf das Spiel, weil sich die Niederländ­er äußerst variabel in ihrer Struktur zeigten.

Das deutsche Team aber verschafft­e sich selbst wieder Zugriff auf das Spiel. Genauso, wie es sich vom 0:1 nicht aus dem Konzept bringen ließ. Dass der Siegtreffe­r der deutschen Mannschaft erst wenige Minuten vor Schluss fiel, war kein Zufall. Enge Partien würden oft jene Mannschaft­en gewinnen, „die es ein bisschen mehr wollen“, so Nagelsmann. Seine Mannschaft wollte den Erfolg mit aller Macht. Dass es letztlich mit dem Sieg klappte, lag hauptsächl­ich an den Einwechsel­spielern. Niclas Füllkrug und Thomas Müller brachten genauso frischen Wind in das zuvor abgeebbte deutsche Angriffssp­iel wie Chris Führich.

Eben jenen Spielern, die zu Spielbegin­n mit einem Platz auf der Bank vorliebneh­men müssen, misst Nagelsmann große Bedeutung bei. Bei Turnieren würden in den meisten Fällen die Spiele nicht in der ersten Stunde entschiede­n, sondern in der letzten halben Stunde. Als Füllkrug zum 2:1 einschulte­rte, hatte Nagelsmann sechs Mal gewechselt. Der Trainer hat es geschafft, dass derzeit offenbar jeder Spieler die Rolle annimmt, die ihm Nagelsmann zugeteilt hat. Dabei waren Gespräche zu führen, „die sicherlich nicht immer angenehm waren“, so der Coach. Schließlic­h würde jeder Spieler gerne von Beginn an auf dem Feld stehen.

Nachdem Aleksandar Pavlovic, Manuel Neuer und Jan-Niklas Beste nicht mitwirken konnten, verfügte Nagelsmann über einen 23-Mann-Kader. Auf diese Sollzahl ist auch die Größe des EM-Kaders begrenzt. „Außer Frage steht: Falls alle gesund bleiben und so weiter performen, werden wir auf jeden Fall nicht zehn Spieler tauschen im Sommer. Eigentlich auch nicht fünf, vielleicht ein, zwei“, kündigt der Trainer an. Einer dieser Plätze ist für Leroy Sané reserviert, der diesmal gesperrt fehlte. „Wenn er gesund ist, werden wir nicht auf ihn verzichten“, stellte Nagelsmann dem Bayern-Spieler eine Garantie aus. Für Leon Goretzka, Mats Hummels, Niklas Süle und alle anderen, die sich Hoffnungen auf die EM machen, bedeutet das: Es wird sehr eng.

Dass der Bundestrai­ner vor der Herausford­erung steht, weitere unangenehm­e Gespräche zu führen und arrivierte­n Akteuren mitzuteile­n, nicht im EM-Kader zu stehen, ist eines von jenen Problemen, das sich der Coach wünschen dürfte. Ansonsten aber steht das deutsche Team erstmals seit langer Zeit nicht vor vielen Problemen – sondern vor einer EM, die nun mit vielen Hoffnungen verbunden ist.

Die Einwechsel­spieler brachten die Entscheidu­ng.

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Foto: Christian Charisius, dpa Julian Nagelsmann macht derzeit vieles richtig.

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