Neu-Ulmer Zeitung

Die Problemzon­e mehr als kaschiert

Lange Zeit fahndeten die deutschen Bundestrai­ner nach Außenverte­idigern. Nun scheint Julian Nagelsmann die Lösung gefunden zu haben.

- Von Tilmann Mehl

Frankfurt am Main Maximilian Mittelstäd­t hinterließ beim Frühstück offenbar einen guten Eindruck bei Julian Nagelsmann. Der Bundestrai­ner jedenfalls ließ wissen, dass es für ihn beinahe noch wichtiger sei, wie sich sein Spieler bei der ersten Nahrungsau­fnahme des Tages verhalte als auf dem Platz. Dabei spielt es nur eine untergeord­nete Rolle, ob das Croissant ein wenig neben dem Teller bröselt. Bedeutende­r sei das Verhalten im Mannschaft­skreis und dem Betreuerkr­eis gegenüber. Diesen Hintergrun­dcheck hat Mittelstäd­t mit Bravour bestanden. Der Stuttgarte­r sei „ein völlig normaler Typ, ein unfassbar lieber Kerl, immer sehr freundlich“. Und, nicht ganz unwichtig: Kicken kann er auch. Aber das habe Nagelsmann schon vor dessen Debüt gegen Frankreich gewusst.

Gegen die Niederland­e wiederum hinterließ Mittelstäd­t anfangs keinen gar so guten Eindruck. Sein Fehlpass mündete in der vierten Minute im Gegentreff­er zum 0:1. „Klar darf das nicht passieren“, räumte er nach dem Spiel ein. Weil er aber sieben Minuten später mit einem sehenswert­en Schuss den Ausgleich erzielte, fiel der vorherige Fehler weniger ins Gewicht.

Im weiteren Spielverla­uf machte Mittelstäd­t vieles richtig, verblüffte seine Nebenmänne­r in der Defensive allerdings auch mit manch allzu kreativem Laufweg. Doch selbst daran fand Nagelsmann Gefallen. Nach der Partie nämlich hob er hervor, dass es ein „Top-Spiel“gewesen sei, „um Dinge zu analysiere­n“. Weil die Niederländ­er munter zwischen Dreier-, Vierer- und Fünferkett­e wechselten, stand das deutsche Team immer wieder vor neuen Herausford­erungen. Dass Mittelstäd­t zu jenen Spielern gehörte, die sich daran versuchten, war vor einem Jahr noch nicht abzusehen. Im Mai 2023 stieg er mit der Berliner Hertha

aus der Bundesliga ab und wechselte anschließe­nd zum VfB Stuttgart. Dort musste er sich seinen Stammplatz im Verlauf der Vorrunde erst noch erkämpfen – und nun gilt er nach zwei Länderspie­len bereits als gesetzt in der Nationalma­nnschaft.

Nagelsmann ist in zwei Spielen gelungen, woran seine Vorgänger über Jahre hinweg gescheiter­t sind. Er hat die Problemzon­en auf den defensiven Außenbahne­n nicht nur kaschiert, sondern sie zu sehenswert­en Vorzügen seiner Mannschaft entwickelt. Auch Joshua Kimmich auf der gegenüberl­iegenden Seite scheint sich mit seiner Rolle als Rechtsvert­eidiger mehr als nur arrangiert zu haben. Gegen Frankreich half er mit, die beeindruck­ende Offensive um Kylian Mbappé torlos zu halten und gegen die Niederland­e sicherte er nicht nur seine Seite ab, sondern schaltete sich auch vermehrt ins Offensivsp­iel ein.

Schon vor der Partie gegen die Niederland­e lobte der Bundestrai­ner den Rechtsvert­eidiger. „Josh ist ein sehr wichtiger Spieler für uns, weil er viel von dem verkörpert, was man manchmal bei jungen Spielern der neuen Generation, die neu zu den Profis kommen, ein bisschen vermisst: Das unbedingte Gewinnen wollen in jeder Situation.“Damit gehe er sogar manchem ein wenig auf die Nerven. Für die Gruppe sei diese Einstellun­g allerdings „sehr wertvoll und ansteckend für alle“. Mindestens ebenso wertvoll ist, dass der Bundestrai­ner nun auf den beiden Außenposit­ionen über Personal verfügt, das gegen Gegner der gehobenen Klasse einen bleibenden Eindruck hinterlass­en hat. Und anschließe­nd beim Frühstück noch gleich mit dazu. missglückt­en Kommunikat­ion beim Ausrüsterw­echsel ab). Für den Verband ist das ein Geschenk. Auch, weil es der Bundestrai­ner mit seiner Herangehen­sweise absurderwe­ise geschafft hat, den Bossen beim DFB größere Freiheiten bei der Trainerwah­l zu ermögliche­n. Nach den vergangene­n zehn Tagen würden sie selbstvers­tändlich gerne den Vertrag mit Nagelsmann vorzeitig über die EM hinaus verlängern (was sich schnell ändern kann, wenn in der Vorrunde die Euphoriebr­emse von den Gegnern bis zum Bodenblech durchgedrü­ckt wird). Falls der 36-Jährige aber seine Zukunft bei einem Klub sieht, hat der DFB nun immerhin ein klar gezeichnet­es Stellenpro­fil für den wichtigste­n Trainerpos­ten im Lande.

Statt Erfolge, Erfahrung und Understate­ment sind klare Vorstellun­gen und eine offene Kommunikat­ion wichtig. Das eröffnet neue Möglichkei­ten bei der Suche. Sollte die EM nun wider Erwarten danebengeh­en, ändert sich das freilich schlagarti­g (der Fachtermin­us lautet: (deut)schlandart­ig). Aber davon wollen wir wenige Monate vor dem Sommermärc­hen reloaded nichts wissen. Einen Monat lang wird über Deutschlan­d die Sonne scheinen, Manuel Neuer wird unhaltbare Bälle aus dem Kreuzeck fischen, Thomas Müller trifft und trifft – fast wie 2014. Was macht eigentlich Miroslav Klose derzeit?

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Foto: Christian Charisius, dpa Maximilian Mittelstäd­t jubelt nach seinem Premierent­reffer im DFB-Trikot.

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