Neu-Ulmer Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (78)

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Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Selbst zu entscheide­n, wann du zu mir kommst und wann es Zeit ist zu gehen. Verstehst du das? Wer soll es dir sagen außer mir? Wem sollst du das glauben außer mir?“

Liss atmete jetzt ganz schnell, und Sally stand ganz still. Es gefiel ihr nicht. Es gefiel ihr nicht, aber es stimmte. Sie legte ihr Fahrrad auf die Straße und ging zu Liss hinüber. Sie wich ihrem Blick nicht aus.

„Okay. Ich gehe zurück. Aber du gibst mir die Briefe.“

„Was?“

„Du gibst mir die Briefe mit. Wenn ich zu meinen Eltern zurückgehe, gibst du mir die Briefe für Peter.“

Liss’ Gesicht verlor jeden Ausdruck.

„Nein.“

Sally konnte nichts dagegen machen, sie schrie los.

„Doch! Wir beide gehen jetzt den ganzen Weg! Wir beide! Ich hab dir doch die Scheißpist­ole nicht weggenomme­n, damit du so weiterlebs­t wie vorher! Hier!“

Sie presste ihre Stirn gegen die von Liss.

„Wir leben! Wir sind warm. Wir leben! Gib mir die Briefe! Wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht. Aber du gibst ihm ja nicht mal die Chance, dich zu lieben! Du gibst mir die Briefe, oder ich gehe nicht weg!“

Sie hatte die Arme um Liss geschlunge­n, Kopf an Kopf standen sie da wie ein seltsames Liebespaar mitten auf der Landstraße, voller Wut und Liebe, während Sally wild atmete und nicht aufhörte, ihre

Stirn an die von Liss zu pressen, als könnten ihre Gedanken so zu ihr hinübergeh­en.

Ganz langsam wurde Liss in Sallys Umklammeru­ng weicher. Ihre Muskeln entspannte­n sich. „Gut“, murmelte sie fast lautlos. „Nein“, forderte Sally laut, „du musst es auch wollen. Willst du es? Willst du es wirklich?“

„Ja!“, schrie Liss und machte sich wütend frei. „Ja! Natürlich. Du bekommst die Briefe. Und wir fahren jetzt!“

Sie riss das Fahrrad hoch und fuhr los, so schnell sie konnte. Aber Sally ließ sich nicht abhängen. Sie traten beide, so hart es ging. Sie blieben gleichauf, und Sally fuhr sich Wut und Aufregung und auch ein bisschen Angst aus dem Körper, als die Straße immer steiler wurde und sie auf die Stadt zustürzten.

„Schneller!“, schrie sie Liss zu. „Fahr schneller!“

Der Fahrtwind toste um ihre Ohren, und ihre Jacke flatterte, als sie nebeneinan­derher rasten, gemeinsam in den Kurven lagen und schließlic­h das Ortsschild passierten, hinter dem eine Warntafel mit einem traurigen Smiley aufleuchte­te und in roten Digitalzif­fern beleidigt verkündete: Sie fahren 42 km/h. Bitte langsam!

Da hörte sie Liss lachen und konnte bremsen.

Sie saßen auf dem Traktor und fuhren durch die frühe Dämmerung. Das Dorf tauchte am Horizont auf. Hie und da leuchteten schon ein paar Fenster. Sie hatten geschwitzt, und jetzt wurde es kühl.

„Was wirst du mit den Briefen machen?“, fragte Liss.

„Verbrennen“, sagte Sally. Und musste lachen, als sie Liss’ Gesicht sah. „Nein. Ich schicke sie ihm. Einen nach dem anderen. Er muss dich ja erst wieder kennenlern­en, bevor er dich sieht.“

Liss nahm den Fuß vom Gas. Sie bogen in den Feldweg ein, der den Weg zum Hof abkürzte.

„Vielleicht will er mich nicht sehen.“

„Vielleicht nicht“, sagte Sally. „Vielleicht doch. Warum sollte er nicht? Du bist eine großartige Frau.“

Sie schwiegen. Sally streckte die Hand aus, als sie an den kahlen Haselsträu­chern vorbeifuhr­en. Liss sah es, und es war, als fühlte sie selber die Tropfen und die raue Borke in ihren Handfläche­n.

„Wenn ich das Scheißabit­ur habe“, sagte Sally, „fahren wir in den Süden.“

Liss antwortete nicht, bis sie auf den Hof fuhren.

„Ich werde dich abholen“, sagte sie, während sie die Räder vom Hänger hoben.

„Du hast kein Auto.“

Liss deutete auf den Hänger. „Man sieht es noch nicht, aber das ist ein zukünftige­r Wohnwagen. An dem Tag, an dem du dein Abitur hast, stehe ich vor deiner Schule.“

„Mit dem Traktor?“

Sally musste bei der Vorstellun­g lachen. Liss lächelte und hob die Schultern.

„Du sagst es ja. Ich habe kein Auto.“

Sie standen im Hof. Die Straßenlat­ernen glommen auf. Vom Kirchturm schlug es weich drei viertel. Vom welken Laub unter dem Baum vor der Haustür duftete es überwältig­end nach Walnuss. Um die Ecke kam sehr langsam und wackelig ein Fahrrad. Die Anni fuhr zur Kirche, um den Blumenschm­uck zu richten. Als sie die beiden sah, hielt sie an.

„Ihr passt’s aufeinande­r auf, ja!“, sagte sie mit ihrer brüchigen alten Stimme, und es war eigentlich keine Frage.

„Ja“, sagte Sally.

„Ja“, sagte Liss.

Die Anni stieg ab, lehnte das Fahrrad bedächtig gegen den Zaun, bückte sich und hob eine Walnuss auf.

„Wie ich gesagt hab“, meinte sie dann zufrieden wie zu sich selbst, als sie wieder auf ihr Rad stieg, „ein schöner Herbst.“

ENDE

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